Wer wissen will, wie sich das Metaversum anfühlen könnte, sollte Night City besuchen. Im Licht der allgegenwärtigen Reklametafeln stundenlang zwischen mondänen Geschäften oder fliegenden Händlern zu flanieren und in den zahlreichen Bars und Nachtclubs Kontakte zu knüpfen, vermittelt einen ersten Eindruck von der Zukunft digitaler Kommunikation. An jeder Ecke dieser pulsierenden Metropole voller Menschen warten neue Erfahrungen.
Heute fußt das Internet auf einer Umsetzung klassischer Medien wie Zeitung und Buch, Fernsehen und Radio in neuem Gewand, ergänzt durch zahlreiche Handels- und Austauschplattformen. Es bietet einen Zusatznutzen, der bei der schieren Menge verfügbarer Informationen und deren Verknüpfung untereinander beginnt und bei Optionen endet, die die Trennung zwischen Sender und Empfänger, zwischen Anbieter und Konsument aufheben. Seine hauptsächlich textbasierte und zweidimensionale Anmutung verhindert allerdings weiteres qualitatives Wachstum, ist doch diese Art der Kommunikation unnatürlich abstrakt und auf Dauer höchst anstrengend.
Menschen sind dazu gemacht, miteinander zu reden, sich auch in größeren Gruppen direkt zu begegnen, sich ohne zeitlichen Versatz auszutauschen und dabei akustische wie visuelle Daten gleichzeitig aufzunehmen und zu verarbeiten. All das entfällt weitgehend in Messenger-Diensten oder sozialen Plattformen, in Diskussionsforen oder Kommentarspalten. Das kommende Metaversum könnte Abhilfe schaffen. Weil es nicht auf die Optimierung einzelner technischer Methodiken wie „Texte verfassen“, „Bilder hochladen“, „Videos editieren“ fokussiert, sondern auf eine natürliche Interaktion, die der Nutzer bereits beherrscht und nicht erst erlernen muss.
Games wie eben Cyberpunk 2077 oder Red Dead Redemption II (siehe Tichys Einblick 09/2021) zeigen, wie eine tiefe Immersion schon auf konventionellen Monitoren mit einfachen Kopfhörern gelingt. Authentizität entsteht aus Wirklichkeitsanalogien. Das Metaversum kommt daher nicht ohne Regeln aus, die aber gleichzeitig von zahlreichen Beschränkungen, Zwängen und Gefahren des physischen Kosmos befreien. So wird es ein „oben“ und „unten“ geben, eine Art Schwerkraft. Objekte, die fallen und aufprallen, nehmen jedoch keinen Schaden. Die Proportionen von Infrastrukturen, Maschinen, Geräten und Personen müssen aufeinander abgestimmt sein, die Außenmaße eines Gebäudes definieren, aber nicht zwingend sein inneres Volumen.
Hinter manchen Türen mögen sich wiederum ausgedehnte eigene Welten verbergen. Auf Straßen und Wegen bewegt man sich zu Fuß oder in einer Vielzahl von Fahrzeugen (die virtuelle Probefahrt als clevere Marketing-Option für Automobilhersteller). Ein Schnellreise- oder Teleportsystem dient der Bequemlichkeit. Wer die dritte Dimension nutzen mag, stattet seinen Avatar mit Flügeln aus oder einem Jetpack. Wie überhaupt jedem Pixel im Metaversum eine Funktion innewohnen kann.
Als Schnittstelle zum konventionellen Internet der Gegenwart liegt das Metaversum wie eine zusätzliche Schicht über den vorhandenen Diensten und Protokollen. Auch dort kann man also im Web surfen oder Emails schreiben und Tichys Einblick wie gewohnt konsumieren. Zur Autorenkonferenz öffnet dann ein digitaler Schlüssel die Tür der virtuellen Repräsentanz der Redaktion. Begegnungen von Avataren sind zu vielen Anlässen eine effektive Verbesserung der heute üblichen Videokonferenzen mit Talkshow-Charakter. Wobei diese Stellvertreter eben nicht nur bloße Platzhalter darstellen, sondern selbst Programme mit einer Vielzahl an Fertigkeiten sind.
Sie dienen beispielsweise als Container für alle Zugangsberechtigungen, Passwörter und Identifikationsmechanismen, die man im Verlauf einer digitalen Existenz so ansammelt. Das „Öffnen“ einer „Tür“ ersetzt die heute allzu häufig komplizierte und unbequeme Authentifizierung. Im Gebäude des Geldinstitutes wartet dann schon die ebenfalls durch einen Avatar personifizierte Bank-KI, um den Überweisungsauftrag entgegen zu nehmen. Dieses Prinzip der reibungslosen und komfortablen Handhabung lässt sich auf Prozesse aller Art übertragen, ob Bestellung im Onlineshop, Hotelreservierung oder Fahrkartenbuchung. Was sich davon wirklich in welcher Form als neuer Standard durchsetzt und bei welchen Verrichtungen die Nutzer lieber im alten World-Wide-Web der Gegenwart mit seiner Browser-Technologie verbleiben, wird sich ergeben.
Gleiches gilt für andere Ansätze, die derzeit die Schlagzeilen bestimmen, seien es Epic Games (Fortnite) oder Meta (Facebook). Soziale Medien oder Spielewelten können Teil des Metaversums sein, man wird sie von dort aus einfach betreten und wieder verlassen können, aber sie sind nicht das Metaversum selbst. Dieses entsteht, genau wie einst das World-Wide-Web, selbstorganisiert durch das Zusammenwirken vieler individueller Macher mit einer gemeinsamen Vision. Oder es entsteht nicht. Es muss eine dauerhaft existierende Infrastruktur sein, die niemals verschwindet, deren Regeln nicht von zentralen Autoritäten bestimmt und die niemals einfach abgeschaltet werden kann.
So wie auch das World-Wide-Web niemandem gehört und von niemandem beherrscht wird. Was in Snow Crash von einer kleinen Gruppe nicht näher charakterisierter „Hacker“ geschaffen wurde, dann evolutionär gewachsen ist und damit zunehmend an Attraktivität gewann, mag nun von der Crypto-Szene ins Leben gerufen werden. Upland, eine Art Blockchain-Monopoly mit derzeit knapp 200.000 Nutzern, könnte eine Initialzündung sein. Decentraland, das als Raster einzelner, handelbarer Pixel begann, und mittlerweile Museen, Konzertbühnen und Einkaufsviertel bietet, eine andere.
Diese Ansätze verdeutlichen, was das Metaversum als Internet 3.0 dem Browser-Web voraus hat. Es ist ein neuer Wirtschaftsraum für neue Wertschöpfungsketten, hinterlegt mit einer eigenen, nicht von staatlichen oder öffentlichen Stellen kontrollierten Währung als universellem Tauschmaßstab. Sein Aufbau und seine Besiedelung sind dem Aufbruch zu einem neuen Kontinent oder gar zu einem neuen Planeten vergleichbar. Der mit Pionieren beginnt und in der Skyline New Yorks oder besser Night Citys endet. Die neue Metaversum-Wertschöpfung basiert auf dem Handel mit virtuellen Gütern. Zu diesen zählen beispielsweise „Gegenstände“ – also Algorithmen – für die persönliche Unterkunft oder die Gestaltung seines Stellvertreters, die Statussymbole, Stilelemente und Werkzeuge gleichermaßen sein können.
Das Metaversum wird, ganz wie die USA in der Wirklichkeit und wie Night City in der Phantasie, unterschiedlichste Kulturen miteinander verrühren und neugestaltet in individueller Fragmentierung wieder auswerfen. Keine Angst vor babylonischer Sprachverwirrung – einen KI-basierten Simultanübersetzer gibt es für kleines Geld als symbolisches Avatar-Körper-Implantat, wenn er nicht gleich zur Grundausstattung gehört. In Night City hat man dieses unverzichtbare Accessoire ja auch.
Es fehlt allerdings noch viel, bis das Metaversum in einer Güte zur Verfügung steht, die es niemandem mehr gestattet, nicht dort zu sein. Und potente Investoren mit der Aussicht auf Wohlstandserwerb jenseits staatlicher Regulierungen anlockt. Für die Echtzeitdarstellung realistischer, dreidimensionaler und dynamischer digitaler Welten mangelt es an Rechenkraft und Bandbreite. So sind virtuelle Räume, in denen nicht mehr nur einige hundert, sondern gleich mehrere Milliarden Menschen gleichzeitig aktiv sein können, mit dem heutigen Stand der Technik schlicht unmöglich. Aber die Dinge fügen sich.
Die Kapazität heutiger Großrechner wird man bald am Handgelenk mit sich herumtragen, genug Rechenkraft für gleich mehrere künstliche Intelligenzen und mächtige Game-Engines wie Unreal, Unity oder Frostbite. Bandbreite entsteht nicht nur irdisch durch die Ausweitung von Glasfasernetzen, sondern auch im All durch Konstellationen wie Starlink oder OneWeb. Vielleicht werden dort, im niedrigen Erdorbit, eines Tages auch die Metaversum-Server platziert. Das sichert zumindest gleichmäßig niedrige Latenzzeiten unabhängig vom geographischen Standort. Was wichtig ist, um ein besonders entscheidendes Detail umzusetzen. Und zwar die Übertragung der eigenen Mimik auf den Avatar. Das andauernde debile Grinsen der Zeichentrick-Figuren aus diesem Facebook-Erklärfilm treibt nämlich nach wenigen Minuten jeden in den Wahnsinn. Daran sollte es doch wirklich nicht scheitern.