Wer regelmäßig Kontakt mit sich als liberal und freiheitlich empfindenden Persönlichkeiten hat – oder auch in den Leitmedien unserer Republik oder in sozialen Netzwerken wie Facebook Artikel ebensolcher verfolgt – dem konnte nicht verborgen bleiben, wie sich in der Sprache der liberalen Bürger unserer Republik ein ungewöhnlicher Wandel vollzog.
Über Jahrzehnte – nein, schon Jahrhunderte – galt es für den Freiheitlichen als Selbstverständlichkeit, sich selbst als „liberal“ zu verstehen. Der freiheitliche Freigeist, so wie er sich einst im Badischen artikulierte und zu einem Träger der bürgerlichen Revolution von 1848 wurde, war „der Liberale“. Nach unterschiedlichen, mal eher sozialen, mal eher konservativen und mal eher nationalen „liberalen“ Parteien während Erster Demokratie und Weimarer Republik formierte sich aus diesen Liberalen mit der Gründung der Bundesrepublik Kapitulation Deutschlands eine politische Partei mit dem Namen „Freie Demokratische Partei“ – wobei die scheinbare Tautologie des „frei“ im Sinne eines staatspolitischen Bekenntnisses mit dem „demokratisch“ als Ausdeutung der politischen Freiheitlichkeit eine deutliche Abgrenzung von den libertären Philosophien jener Zeit dokumentierte. Wir werden darauf zurückkommen.
Die Liberalen der Nachkriegszeit
Die FDP stellte sich in eine große Tradition. Denker wie Immanuel Kant und John Locke hatten liberales Denken als das Primat der Vernunft und der individuellen Unabhängigkeit über obrigkeitsstaatliche Gängelung gestellt. Liberal war die konsequente Umsetzung dessen, was die europäische Aufklärung erst ermöglicht hatte: Die Überwindung kollektivistischer wie gottgegebener Philosophien durch den selbstbestimmten Bürger. Und eigentlich – so hätte man meinen sollen – hätte eine liberale Partei nach der Katastrophe der nationalsozialistischen Diktatur eine Partei sein müssen, die eine breite Mehrheit der geschundenen, aber scheinbar doch aufgeklärten deutschen Bevölkerung hätte ansprechen müssen.
Jedoch – die demokratischen Wahlen der Bundesrepublik der Nachkriegszeit zeichneten ein anderes Bild. Es dominierte die damals noch vom rheinischen Katholizismus geprägte Union ebenso wie die in den kollektivistischen Vorstellungen des Sozialismus verharrende SPD. Die FDP, die sich in ihrem Personal in den Anfangsjahren noch von dem einen oder anderen Personalrestbestand mit brauner Vergangenheit vertreten sah, etablierte sich – ganz liberal – zwischen diesen Protagonisten traditioneller Denkschulen als eigentliche Kraft des aufgeklärten Bürgertums.
Lange Jahre fest an die kleinbürgerliche Union gebunden, fand sie in den sechziger Jahren den Weg zur sich von der reinen sozialistischen Lehre behutsam lösenden SPD. Um diese Bereitschaft zur freien und unabhängigen Entscheidung zwischen den ewigen Blöcken der immer noch jungen Republik gegenüber dem Wähler zu dokumentieren, wurde das Kürzel „F.D.P.“ in den achtziger Jahren mit dem feststehenden Zusatz „Die Liberalen“ verknüpft. Die Freien Demokraten dokumentierten so ihren eigenen Anspruch nach Außen scheinbar unwiderruflich als liberal – und wurden in ihrer Mitgliederstruktur zu einer Partei, in der Rechtsliberale, die sich in aller Regel als „Wirtschaftsliberale“ interpretierten, mit „Linksliberalen“, die sich eher wie der freiheitliche Flügel der ursprünglich kollektivistischen SPD präsentierten, um die Meinungshoheit rangen. Der nationalliberale Flügel – noch in den fünfziger Jahren bestimmendes Element der FDP – war zwischenzeitlich in den Fährnissen der bundesdeutschen Geschichte entschwunden.
Liberal als Synonym für Unverbindlichkeit
Gleichzeitig aber leiteten “die Liberalen” mit ihrer Okkupation des Begriffs “liberal” bei zunehmender Differenzierung zwischen Wirtschafts- und Linksliberalen eine Entwicklung ein, bei der dieser traditionsreiche Begriff zunehmend mehr seinen ursprünglichen Inhalt verlor. Denn liberal wurde zu einem Synonym für Unverbindlichkeit.
Es konnte ebenso liberal sein, mit einer sich autokratisch gebärdenden Adenauer-Union zu kooperieren wie mit den sich trotz aller Demokratisierung aus kommunistischer Tradition speisenden Sozialdemokraten um Herbert Wehner und Willy Brandt zusammenzuarbeiten. Die Liberalen brachten dabei nach dem traditionellen Vertreter Theodor Heuß mit einem Walter Scheel, der zwar nicht auf dem hohen Ross, dafür jedoch auf einem gelben Wagen sitzend seinen Führungsanspruch in die Welt sang, und Hans-Dietrich Genscher, dem mit den Ohren, der maßgeblich an der Neuordnung Europas im Zuge der Vereinigung von Bundes- und Deutschdemokratischer Republik beteiligt war, bedeutende Politiker hervor.
Vom Liberalismus zum Libertarismus
Unmerklich, aber fast unvermeidlich, verlor der Begriff liberal durch die parteipolitische Einvernahme seinen von Locke, Kant und anderen Denkern gespeisten, freiheitlichen Ansatz eines selbstbewussten, in Gegnerschaft zur Obrigkeit stehenden Bürgertums. Und ebenso unmerklich wurde nicht nur in den Medien, sondern selbst in den Reihen der FDP der verschwimmende Begriff des Liberalen durch einen anderen, scheinbar neuen Begriff ersetzt. Es galt spätestens nach der Regierungsübernahme des als Spaßpolitiker überzeichneten Guido Westerwelle zunehmend als freiheitlich, sich nicht mehr als liberal, sondern als libertär zu bezeichnen – in der irrigen Annahme, die von den sich mehr und mehr als Interessenvertretung kleiner Sponsorgruppen aus der Wirtschaft präsentierenden Freien Demokraten verinterpretierten Liberalität durch einen dem ursprünglichen Gedanken des Liberalismus unabhängig von einer als Klientelpartei wahrgenommenen politischen Gruppierung deutlich eher gerecht werdenden Libertarismus ersetzen zu können.
Wer als liberaler Denker fortan seinen freiheitlichen Ansatz in Wort und Schrift zu dokumentieren gedachte, ersetzte den traditionsreichen Begriff “liberal” durch “libertär”. Libertarismus wurde zum neuen Liberalismus – nicht nur in internen Diskussionen, sondern auch in den Leitmedien der Republik.
Die Illiberalität des Libertarismus
Dieser Wandel ist jedoch nicht ohne Brisanz. Denn der europäische Libertarismus ist im seinem Ursprung deutlich weniger liberal als der Liberalismus. In den Denkschulen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts bis hinein in die Gegenwart steht libertär für eine Ausprägung der Anarchie. Anerkennt der Liberalismus die Notwendigkeit des Staates als Konstrukt der gesellschaftlichen Organisation in dem Maße an, wie dieser die Freiheit auf Selbstbestimmung des Individuums garantiert – womit er uneingeschränkt in der Tradition der bürgerlichen Revolution von 1848 steht – so stellt der Libertarismus in seiner ursprünglichen Definition die Notwendigkeit des Staates an sich in Frage. Libertarismus strebt nach Überwindung staatlicher Ordnung durch die Einsicht in die Vernunft des Individuums bei gleichzeitig uneingeschränkter Verfügungsgewalt des Einzelnen über das individuelle Eigentum.
Im negativen Sinne organisiert der Libertarismus durch seinen uneingeschränkten Anspruch der Selbstverfügung über das Eigentum beim Fortfall der Bereitschaft, im Sinne des anderen “vernünftig” zu handeln, eben genau jene Exzesse der Selbstbereicherung zu Lasten Dritter, mit denen sich das System politisch-wirtschaftlicher Verknüpfung von Staat und Schuldenfinanzierung in den vergangenen Jahren bis an den Rand der Selbstzerstörung gefahren hat.
Libertarismus und Zivilgesellschaft
Libertarismus fehlt, wenn man ihn aus liberaler Sicht betrachtet, nicht nur die soziale Selbstverpflichtung, sondern letztlich auch die gesellschaftliche Bodenhaftung. Wenn gleichwohl der Begriff des “libertären” den Begriff des “liberalen” zunehmend mehr zu ersetzen sucht, dokumentiert dieses im Sinne der Weiterentwicklung der Gesellschaft eine zunehmende Abwendung vom Staat und seinen Institutionen, die allein für sich in einem Gemeinwesen schon problematisch ist und dessen langfristige Folgen nicht absehbar sind. Flankiert wird diese Entwicklung durch ein höchst aktuelles Modewort: Der „Zivilgesellschaft“. Auch dieser Begriff zielt darauf ab, eine Trennung zwischen „dem Staat“ als bürgerfremdes Organisationskonstrukt und dem Bürger als von diesem Konstrukt autoritär gelenkten Individuum zu konstruieren, die in eklatantem Widerspruch steht zum demokratischen Staat als administrative Selbstorganisation der Gemeinschaft der Bürger.
Beide Begriffe – der Libertarismus wie die Zivilgesellschaft – können insofern zweierlei Intentionen folgen:
- Entweder sind sie Folge einer zunehmenden Entfremdung zwischen den gewählten Institutionen und ihren Wählern, oder
- Sie werden gezielt platziert, um durch die dadurch dokumentierte Trennung von Bürger und Administration die demokratisch organisierte Gesellschaft zu unterhöhlen und am Ende durch eine revolutionäre Übernahme der Administrationsebene durch „den Bürger“ die Verfasste Demokratie durch eine anarchische abzulösen.
In beiden Fällen dokumentieren sie jedoch die Situation eines zunehmend schwächeren Staates, dessen Institutionen ihre natürliche Verankerung im Bewusstsein des Bürgers verloren geht. „Der Staat“ wird vom Bürger nicht mehr als integraler und integrierender Bestandteil einer Gemeinschaft von Gleichen (im Sinne politischer Teilhabe) begriffen, sondern als Gegner wider die eigenen Interessen. Ein Gemeinwesen, das den bürgerlichen Liberalismus durch den anarchischen Libertarismus ersetzt, wird so in seiner Ablehnung des Staates ebenso anfällig für autoritäre Heilsversprechen wie ein Gemeinwesen, welches über die Definition einer „Zivilgesellschaft“ als Antagonist der staatlichen Institutionen zwischen autoritärer Führung und autoritär Geführten unterscheidet.
Der Wandel der Sprache dokumentiert den politischen Niedergang
Der schleichende Vorstoß der Sprache mit beiden Begriffen ist insofern Symptom für eine Feststellung, die bereits Hannah Arendt getroffen hat: „Alle politischen Institutionen sind Manifestationen und Materialisationen der Macht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt.“
Für die Bundesrepublik Deutschland ist insofern allein schon durch den Wandel der Sprache die Erstarrung von politischen Prozessen, die zunehmende Entfremdung zwischen Politiker und Bürger, aus denen im Sinne autoritärer Strukturen Herrscher und Beherrschter werden, selbst dann zu konstatieren, wenn eine entsprechende, öffentliche Debatte drüber nicht geführt wird oder nicht geführt werden darf. Dabei wäre es höchste Zeit, dass insbesondere die etablierte Politik den sich über den Wandel der Sprache aufzeigenden Konflikt der Entfremdung realisiert und zur Gemeinsamkeit von Bürger und Politiker mit mehr als hohlen Phrasen zurückkehrt.
Faktisch jedoch erleben wir das genaue Gegenteil: Die etablierte Politik verhält sich zunehmend mehr, als wenn sie in einer anderen Galaxie lebte. Nicht nur die kontinuierliche Abschaffung der Bürgerfreiheiten insbesondere durch den Bundesminister der Zensur – jüngst nun auch das erbärmliche Schauspiel des Kollektivverdachts gegen die eigenen Untergebenen eines in jeder Hinsicht überforderten weiblichen Bundesministers der Verteidigung, sind unübersehbare Dokumente der tatsächlichen Wesensferne von Bürger und Politiker und damit der Zerrüttung der Grundpfeiler des demokratischen Staats.