Tichys Einblick
Union und SPD sterben ab

Volksparteien verlieren Daseinszweck und Lebensraum

Politik ist Kommunikation. Neue Beteiligungsoptionen in erweiterten Diskursräumen ändern zwangsläufig die Mechanismen der Demokratie. Volksparteien werden nicht mehr gebraucht. Sie waren ohnehin nie mehr als Ausdruck eines Mangels an individueller Souveränität, den Technologie nun behebt.

Fünf Jahre genügten der neugegründeten AfD für den Einzug in alle deutschen Länderparlamente, in den Bundestag und in das EU-Parlament. Mittlerweile ist sie in einigen Bundesländern auf dem Weg zu stärksten Kraft. Die ersten Regierungsbeteiligungen, ja sogar die ersten Ministerpräsidenten gelangen in Reichweite. In weniger als zwei Jahren gelang es den Grünen als kleinster Oppositionspartei zur führenden Kraft im linken Lager aufzusteigen und die SPD in allen Umfragen und bei der jüngsten EU-Wahl deutlich hinter sich zu lassen. Ein grüner Kanzlerkandidat, der das Amt nicht nur anstrebt, sondern auch erringt, erscheint längst nicht mehr als utopische Spinnerei.

Wer noch in der alten Bundesrepublik politisch sozialisiert wurde, wird diese rasanten Veränderungen zu Recht als Zeitenwende empfinden. Die einst so unverwüstlich scheinenden Christ- und Sozialdemokraten zerbröseln, letztere nur etwas schneller aufgrund des DDR-Artefakts am linken Rand. Parallel haben die Liberalen ihre Alleinstellung als Mehrheitsbeschaffer und dadurch auch die Orientierung verloren. AfD und Grüne sind die neuen Antipoden des Systems. Sie setzen die Themen und definieren die Orientierungspunkte der politischen Auseinandersetzung, an denen sich auch die Wähler aller anderen Parteien zumindest indirekt ausrichten. Jedenfalls für den Moment. Denn der Aufstieg einiger Kleinparteien (man denke an die bereits in Bayern mitregierenden Freien Wähler) kann ebenso wenig ausgeschlossen werden, wie weitere erfolgreiche Neugründungen oder gar eine Spaltung der CDU, in der sich „WerteUnion“ und „Union der Mitte“ zunehmend durch ihre gegenseitige Ablehnung definieren. Die Zustände auf der politischen Bühne sind ins Rutschen gekommen und dieser Prozess ist unaufhaltsam.

Volksparteien werden nicht mehr gebraucht …

Es führt nämlich kein Weg zurück in die alte Zeit der drei Fernsehprogramme, in der ein Senderwechsel keine neue Perspektive eröffnete. Heute bieten Satelliten hundert oder mehr deutschsprachige Kanäle mit stetig sinkender Attraktivität, weil Streaming-Dienste und Videoportale besser unterhalten. Es führt kein Weg zurück in die Epoche der Tageszeitungen als hegemoniale Interpreten komplexer Wirklichkeiten. Heute schaltet man sein Smartphone ein und ist nur einen Fingertipp entfernt von hundert unterschiedlichen Ansichten über tausend verschiedene Sachverhalte.

Noch zu Gerhard Schröders Zeiten, und die liegen gerade einmal fünfzehn Jahre zurück, war es einfach, mit „Bild, BamS und Glotze“ Harmonie zwischen Regierenden und Regierten herzustellen und eine kollektiv geteilte Ansicht über das zu etablieren, was nach Auffassung der Machtmechaniker in Bonn beziehungsweise Berlin erstens als wichtig und zweitens als „dem Gemeinwohl dienlich“ zu gelten hatte. Früher stellte sich die Aufgabe, primär die innerhalb dieses künstlich limitierten Diskursraums zugelassenen Themen mit mehrheitsfähigen politischen Konzepten zu bedienen. Hier glänzten die Volksparteien als Strukturen, in denen Kompromisse zwischen im Grunde völlig unterschiedlichen Strömungen ohne direkte Mitwirkung der Wähler bereits im vorparlamentarischen Raum ausgehandelt wurden. Sich dem zu unterwerfen, von seinen eigentlichen Zielen und Ideen zugunsten eines kollektiv geteilten kleinsten gemeinsamen Nenners abzurücken, war für Vertreter aller Spektralfarben überaus attraktiv. Garantierte es doch Machtzugänge und Versorgungsposten, vom Abgeordnetenmandat bis hin zur Referententätigkeit in Behörden und Verwaltungen. Früher konnten zu diesem Zweck beispielsweise Nationalkonservative, Wirtschaftsliberale und Herz-Jesu-Sozialisten über gegensätzliche und letztlich unvereinbare Positionen hinwegsehen und sich zu einem diffusen, primär auf Machterhalt ausgerichteten Konglomerat namens „Union“ zusammenfinden. Denn früher filterten begrenzte Kommunikationsoptionen die Diversität der Gesellschaft aus der veröffentlichten und daher öffentlichen Wahrnehmung heraus. Ein eng geknüpftes Geflecht aus Politik, öffentlich-rechtlichem Rundfunk und einigen wenigen auflagenstarken privaten Zeitungen und Zeitschriften orchestrierte und dirigierte jeden Meinungsbildungsprozess. Aber damit ist es nun vorbei.

… Volksmedien auch nicht

Es führt nämlich kein Weg zurück in die alte Zeit, in der allenfalls Leserbriefe oder der Stammtisch dem einzelnen Bürger Raum boten, Ansprüche zu artikulieren, Ärger loszuwerden und Ideen einzubringen. Endgültig vorüber ist die Epoche, in der man nicht nur für wahr, sondern auch für relevant halten musste, was in der Tagesschau oder in der Zeitung Platz fand, weil es kaum andere Auskunftsquellen gab. Das Internet als Werkzeug der kommunikativen Selbstermächtigung verschwindet nicht mehr. Den umfangreichen Möglichkeiten, sich kundig zu machen, eigenständig zu recherchieren und zu überprüfen, fügt es die Option hinzu, ohne großen Aufwand selbst zum Sender für ein potentiell unbegrenztes Publikum zu werden. Nie war es einfacher, Gleichgesinnte zu finden, sich mit diesen zu verbinden und dadurch wirkmächtige Resonanzräume für verschiedenste Anliegen zu schaffen.

Man mag über die Themen geteilter Meinung sein, mit denen AfD und Grüne unter Verwendung solcher Räderwerke mobilisieren. Aber wie sie es anstellen, nötigt Anerkennung ab. Der Populismusvorwurf greift zu kurz. Denn ihr Weg besteht gerade nicht darin, populäre, das heißt weit verbreitete Einstellungen aufzugreifen, in bestimmte Richtungen zu lenken und für sich zu instrumentalisieren. Sie besetzen vielmehr gezielt mitunter abseitig erscheinende, für viele bislang  verborgene Minderheitenpositionen. Und initiieren dadurch enthusiastischen Zuspruch und dogmatische Ablehnung gleichermaßen. AfD und Grüne werden entweder gehasst oder geliebt, aber gleichgültig sind sie kaum jemandem. Das sichert ihren Erfolg in der durch die neuen Kommunikationsmethoden geschaffenen Aufmerksamkeitsökonomie, in der auch der heftigste Widerspruch als Bonus auf das eigene Bedeutungskonto einzahlt. Polarisierung ist das Erfolgsgeheimnis im digitalen Raum, nicht Verständigung. Wo aber das sorgsame Abwägen und der wertebasierte Interessenausgleich nicht gefragt sind, können Union und SPD in ihrer bisherigen Form nicht überleben. Das neue Schlachtfeld mittels Regulierungen und Verboten strukturell dem alten anzugleichen, wird ein vergeblicher Rettungsversuch bleiben.

Im Übergang von Volksparteien zu Klientelparteien

Denn das Netz ist nicht die Ursache gesellschaftlicher Differenzierung. Es macht sie nur sichtbar und zeigt in aller Klarheit die Verhältnisse, wie sie wirklich sind und eigentlich schon immer waren. Vorstellungen von wenigen großen, in sich weitgehend homogenen Milieus erweisen sich in der Rückschau als Illusionen, als Täuschungen, als realitätsferne Konstruktionen einer politisch-medialen Echokammer, die sich selbst zuverlässig gegen das real vorhandene chaotische Grundrauschen abschirmen konnte. Wenn „die Arbeiter“ SPD, „die Angestellten“ CDU/CSU und „die Unternehmer“ FDP wählten, dann nicht aus innerer Überzeugung und umfassender Zustimmung, sondern in Ermangelung besserer Alternativen. Eine wohlhabende Gesellschaft, in der sämtliche existentiellen Probleme gelöst sind und in der Technologie zunehmend individuelle Souveränität in allen Aspekten gestattet, zerfällt automatisch in viele kleine von Partikularinteressen zusammengehaltene Gruppen. Und um das Durcheinander komplett zu machen, kann jeder natürlich mehreren davon gleichzeitig angehören.

So erleben wir im Moment den Übergang von der Zeit der Volkspartein in die der Klientelparteien. Schon in wenigen Jahren werden nicht sechs oder sieben, sondern zehn oder zwölf Gruppierungen regelmäßig in die Parlamente einziehen. Manche davon nur als Bewegungen mit begrenzter Laufzeit nach dem Farage-Modell, die sich auf einige wenige Ziele konzentrieren und im Erfolgsfalle wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Soziale Medien, Blogs und Foren generieren nicht nur die dazu geeigneten Themen, sondern auch ansprech- und aktivierbare Mitstreiter.

Mit den Volksparteien geht auch der Berufspolitiker

Ein Herrschaftssystem, in dem die Mehrheit ihren Willen durchsetzt, transformiert sich nun in eines, in dem Minderheiten die Unterdrückung nicht mehr fürchten müssen. War die Rücksichtnahme auf Minderheitenrechte früher ein eher zufälliges Nebenergebnis intransparenter Aushandlungsprozesse zwischen wenigen großen Blöcken, ist sie nun notwendig für Wahlsiege und das effektive Agieren in einer Administration aus vielen unterschiedlichen Partnern. Häufigere Änderungen in den Regierungskonstellationen verhindern zudem langfristige konzeptionelle Festlegungen und ermöglichen rasche Korrekturen von Fehlentwicklungen. Ebenfalls ein Vorteil in einer dynamischen, von unüberschaubar zahlreichen Wechselwirkungen geprägten Welt, in der sich schnell ändernde  Rahmenbedingungen jeden Dogmatismus falsifizieren. Auch der Typus des Berufspolitikers gerät unter Druck, da in einem volatilen Umfeld selbst die größten Opportunisten ihrer dauerhaften Alimentation durch Ämter und Mandate nicht mehr sicher sein können.

Politik ist Kommunikation. Neue Mechanismen des Dialogs verändern daher zwangsläufig die Architektur der Demokratie. Volksparteien sind überflüssig, wenn jeder Bürger zum emanzipierten Repräsentanten seiner eigenen Sache aufsteigt. AfD und Grüne stellen nur Vorboten eines Prozesses dar, an dessen Ende Parlamente und Regierungen Pluralismus wirklich abbilden müssen, statt ihn wie bisher nach Belieben instrumentalisieren oder ignorieren zu können. Und da wir alle in fast allen Zusammenhängen Angehörige von Minderheiten sind, sollten wir diese Entwicklung nicht fürchten, sondern begrüßen und gestalten.

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