In ihrer Angst vor der Wiederholung des Scheiterns der ersten deutschen Republik haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes unabsichtlich und fahrlässig mit einer Fehlkonstruktion des Wahlrechts den Irrweg der zweiten deutschen Republik in den Parteienstaat programmiert.
Der grundlegende Konstruktionsfehler ist, dass nicht Bürger als Abgeordnete in den Bundestag gewählt werden, sondern Parteienlizensierte. Ja, ich weiß, es gibt die direkt gewählten Abgeordneten. Und bei ihnen kommt es vor, dass sie im raren Einzelfall der Fraktionsführung nicht gehorchen. Es könnte nach dem Wahlrecht sogar direkt gewählte Abgeordnete geben, die als Bürger allein kandidieren, ohne von einer Partei aufgestellt worden zu sein. Während Letzteres nicht zur Wirklichkeit der Republik gehört, hat Ersteres die Übermacht der Parteilinie, genauer der Parteiführungslinie, noch genauer, der Fraktionsführungslinie noch nie ernsthaft in Frage gestellt.
Zum grundlegenden Fehler der über Parteilisten gewählten Abgeordneten trat ein Effekt hinzu, den die Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht vorhergesehen haben, vielleicht nicht vorhersehen konnten. Sie schrieben den harmlos scheinenden Artikel 21 ins Grundgesetz:
(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft geben.
(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.
(3) Das Nähere regeln Bundesgesetze.
Im Grundgesetz steht nirgendwo, was die Parteien daraus seit dem 24. Mai 1949 Unglaubliches gemacht haben. In vielen Publikationen steht ausführlich, was ein einziger Satz des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker sagt: „Die Parteien haben sich den Staat zur Beute gemacht!“
Wort des Jahres 1992 wurde „Politikverdrossenheit“. In diesem Jahr formulierte Weizsäcker: „Nach meiner Überzeugung ist unser Parteienstaat von beidem zugleich geprägt, nämlich machtversessen auf den Wahlsieg und machtvergessen bei der Wahrnehmung der inhaltlichen und konzeptionellen Führungsaufgabe.“
Merkel war nicht die erste im Kanzlerstuhl, die Weizsäckers Kritik als Leitlinie missverstand, das taten vor ihr Kohl auch schon und Schröder ebenfalls. Ich erinnere mich an die Verblüffung von Schröder, dass ein einmal gewählter Kanzler tun und lassen kann, was er will, ohne tatsächlich von jemandem daran gehindert werden zu können.
Das ist so, weil der real existierende deutsche Parteienstaat die Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt hat. Hätte ich die Möglichkeit, würde ich den Artikel 21 ersatzlos streichen, das Grundgesetz in die Ursprungsfassung von 1949 zurück versetzen und den letzten Satz der Präambel des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 durch eine Volksabstimmung über eine radikal kurze Verfassung – wie etwa die der USA – verwirklichen:
Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,
von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk
in den Ländern Baden, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern,
um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben,
kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen.
Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war.
Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
Ja, ich weiß auch, dass der Parteienstaat, der „sich den Staat zur Beute gemacht“ hat, auch den im Grundgesetz festgelegten vorläufigen Charakter des Grundgesetzes als Beutemacher einfach außer Kraft gesetzt und das seit seiner ersten Fassung unzählige Male – oft gegen den Geist des Grundgesetzes – geänderte Grundgesetz einfach zur Verfassung erklärt hat – am Volk vorbei.
Am Volk vorbei ist geradezu die unausgesprochene Losung des Parteienstaats.
„Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Steht im Grundgesetz geschrieben, doch das tun die Parteien nicht. Sie lassen das Volk nicht mitwirken und die Zeitgeistmedien missverstehen sich als Verkünder dessen, was das Volk politisch wollen soll.
Ich habe oft und viel über die Zerstörung der Republik durch den Parteienstaat geschrieben. Ich will und kann das hier nicht alles wiederholen. Was die Parteien aus dem scheinbar harmlosen Satz von der Mitwirkung bei der politischen Willensbildung des Volkes gemacht haben, ist abenteuerlich. Hätte die zweite Republik eine unabhängige Justiz gehabt, wäre das nie möglich gewesen.
- Mit der Abschaffung des Parteienprivilegs muss selbstverständlich die ersatzlose Streichung der staatlichen Parteienfinanzierung verbunden sein.
- Regierungsmitglieder dürfen nicht zugleich Abgeordnete sein, Kontrollierte und Kontrolleure zugleich ist unvereinbar.
- Einen Bundespräsidenten braucht es nicht, ein Ministerpräsident, der die Regierung führt und das Land repräsentiert, reicht.
- Als Machtbegrenzung sind zwei Amtsperioden notwendig. Am Besten für Regierungsmitglieder und Abgeordnete.
- Im Bundestag haben Abgeordnete politische Richtungsentscheidungen zu treffen und keine Verordnungen zu verfassen, die irreführend Gesetze heißen.
- Verordnungen sind Sache einer professionellen Verwaltung, die aus den Klauen der Parteien befreit ist.
- Mehr als einmal pro Jahr sind selten Richtungsentscheidungen nötig. Mehr als einmal im Jahr braucht der Bundestag also nicht zusammenzukommen. Bei Landtagen reicht sicher alle zwei Jahre.
- Abgeordnete echter Parlamente gehen ihren privaten Berufen nach. Für ihre Sitzungsteilnahme wird Verdienstausfall erstattet. Abgeordnete brauchen keine steuerfinanzierten Mitarbeiter, Büros, Dienstautos und so weiter.
- Abgeordnete können sich zu Fraktionen und Gruppen zusammenschließen. Jegliche Finanzierung aus Steuermitteln muss ausgeschlossen sein.
- Angehörige des öffentlichen Dienstes haben kein passives Wahlrecht, sie können für diesen Zweck nicht beurlaubt werden, sondern müssen ausscheiden, wenn sie für ein Abgeordnetenmandat kandidieren.
Damit will ich es für heute bewenden lassen. Die Richtung der Struktur einer tatsächlichen Republikreform ist damit klar genug markiert, hoffe ich.
Das Wort des Jahres 1992 von der „Politikverdrossenheit“ war damals schon falsch. Es handelt sich seit jeher um Politikerverdrossenheit, die unglaublich viele immer noch nicht davon abhält zu erkennen, dass die Parteien es sind, die Politiker und zwar Berufspolitiker produzieren, die verdrossen machen. Daher wiederhole ich: Soll die Republik und sollen Freiheit und Recht aus dem Turm von Babel namens Parteienstaat befreit werden, muss diesem das Fundament entzogen werden: die gesetzliche Privilegierung der politischen Partei.
Was unbedingt Hand in Hand sein muss, ist eine radikale, also gründliche Dezentralisierung, in der die Selbstverwaltung der Gemeinden, der Sozialen Institutionen und die Volkswahl von Richtern und Anklägern gehören – wie eine Polizei, die der Justiz unterstellt wird.
Darum, weshalb „Rechtsstaat“ bedeutet, dass die Politik herrscht und nicht das Recht, ein andermal. Ich freue mich auf Ihre Kommentare, werte Leser.