Tichys Einblick
Digitale Plebs

Gig-Economy: Die schöne neue Welt der Plattform-Ökonomie

In den USA wurden 2016 etwa 53 Millionen Freelancer registriert. Experten schätzen, dass sich diese Zahl bis 2020 deutlich erhöhen wird, dass in wenigen Jahren etwa die Hälfte der US-Beschäftigten als Solo-Selbständige auftreten wird. Hierzulande hat das niemand auf dem Radar.

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In Deutschland werden immer mehr Pakete über selbständige Logistikfirmen zugestellt. Auch bei Ihnen hat sicherlich in diesem Jahr schon einmal ein Mann in einem giftblauen Overall mit Hermes-Aufnäher geklingelt. Diese meist etwas gehetzt wirkende Person ist ein scheinselbständiger Unternehmer, der in der Regel auf Provisionsbasis für ein Subunternehmen der Hamburger Hermes-Gruppe arbeitet. Er muss in der Regel selbst sein Fahrzeug kaufen, versichern, betanken und warten. Wenn er Glück hat, bekommt er einen Stundenlohn von 7,-50 Euro (bei wenigstens 15-20 ausgelieferten Paketen pro Stunde). Wenn er Pech hat, wird er ohne Fixum entlohnt, d.h. nur für ein erfolgreich zugestelltes Paket bezahlt. Ist er mal krank, verdient unser Götterbote also gar nichts.

Dieses Geschäftsprinzip ist mittlerweile weit verbreitet. Auch Deliveroo, deren Fahrradfahrer mit ihren großen Thermo-Rucksäcken auffallen, und Foodora („Sei dein eigener Chef“) mit ihren Großstadt-Kurieren arbeiten auf dieser Basis; ebenso wie eine bekannte britische Billig-Airline, deren Piloten als Freiberufler oft nicht nur ihre Dienstkleidung, sondern auch noch ihre Berufsausbildung selbst finanzieren müssen. Dafür, so hört man, arbeiten sie im Winter zu lausigen Gehältern um die 1.800 Euro. All diese Personengruppen bezeichnet die Wissenschaft als Mikro-Unternehmer oder Solo-Selbständige. Den paradigmatischen Begründungshintergrund liefert die sog. Humankapitaltheorie, nach der jeder Mensch selbst für seine spätere Arbeitsplatztauglichkeit (Employability) verantwortlich sei. Und die Digitalisierung macht’s möglich: Fahrrad plus Smartphone gleich Kurier.

Keine Lösung in Sicht
hart aber fair: In der Paketbranche ist alles hart und nichts fair
Das alles ist mehr oder weniger geläufig. In letzter Zeit tritt zu dieser Form der privaten Beschäftigung jedoch immer stärker ein weiterer Trend: die sog. Plattform-Ökonomie. Darunter versteht man die mit Hilfe des Internet bzw. digitaler Online-Plattformen betriebene Vermittlung von Arbeitsaufträgen oder Sachgütern. Die Betreiber dieser Plattformen kreieren damit einen virtuellen Marktplatz, d.h. sie machen Angebot und Nachfrage von Wirtschaftsgütern transparent und bahnen auf diese Weise höchst effektiv vielfältige Geschäftsbeziehungen an. Der Paketzusteller Hermes gehört noch nicht dazu – eher reden wir hier über Firmen und Portale wie Uber, Taskrabbit (Handwerkerdienste), Medicast (Ärzte auf Abruf), Lawyers on Demand, Helpling (Putzkräfte) oder Upworks, das inzwischen jedes Jahr rund drei Millionen Aufträge vermittelt. Bei dessen australischem Konkurrenten Freelancer suchen ebenfalls mehr als 15 Millionen Freiberufler nach Arbeit. Auch Online-Stellenmärkte und Karrierebörsen wie StepStone, Jobware oder Monster gehören in diese Schublade.

Zu unterscheiden sind demnach Geschäftsmodelle, die mit konkreten Gütern handeln (Kapitalplattformen), und solche, die persönlich-professionelle Services anbieten (Arbeitsplattformen). Im Bereich physischer Leistungsangebote sind die sicherlich bekanntesten Portale die Auktionsplattform Ebay und das Online-Kaufhaus Amazon. Bezeichnenderweise hat sich letztgenanntes Unternehmen aber mittlerweile auch in den Dienstleistungsbereich ausgedehnt und mit Amazon Mechanical Turk einen Online-Marktplatz für Gelegenheitsarbeiten – sog. Micro tasks – geschaffen. Man gebe diesen Firmennamen einfach mal bei Google ein und schon steckt man mitten in einer heißen Diskussion um sittenwidrige Niedriglöhne. Apropos Google: Auch die haben mittlerweile Lunte gerochen – und mit Google for Jobs in den USA nachgezogen. Das Unternehmen gab bereits bekannt, die Einführung auch in anderen Ländern zu planen.

Die genannten Portale wirken aber längst nicht nur als Makler („Broker“), sondern auch als Schiedsrichter, die systematisch die Zufriedenheit des Kunden bzw. Leistungsabnehmers ermitteln und den Produzenten der Leistung mit Hilfe eines ausgeklügelten Ratingsystems final bewerten. Immer mehr Festangestellte verwandeln sich damit in professionelle Teilzeitarbeiter. Zumindest bei den Kopfarbeitern wird die eigene Wohnung zur Arbeitsstelle – und aus dem privaten „living room“ ein kommerzieller „coworking space“.

Vor allem freie Journalisten sind diese Art der Beschäftigung längst gewöhnt. Man fühlt sich an den außenpolitischen Experten der BBC erinnert, der in nahezu allen TV-Jahresrückblicken mit seiner süßen, während einer Live-Reportage an Daddys Schreibtisch laufenden Tochter auftauchte. Im Hintergrund die verzweifelte Ehefrau, die ob dieser Peinlichkeit vor einem Millionenpublikum schon die Karriere ihres Mannes am Ende wähnte. Ganz so witzig ist die Realität in den meisten Alltagsfällen allerdings nicht.

Das digitalisiert sich selbst
Bloß kein Digitalminister!
Denn wie sieht die andere Seite dieses Geschäftsmodells aus? Was passiert bei den Solo-Selbständigen? Nehmen wir als Beispiel David S., 30 Jahre. Er hat Informatik studiert und bietet nun über den derzeitigen Marktführer in Deutschland, die Online-Plattform Twago, ein professionelles Webdesign an. Da auch Twago die Aufträge seiner Kunden vor allem über ein Auktionssystem vergibt, muss sich David S. einem vermutlich globalen Wettbewerb stellen. Er bewirbt sich also um den Relaunch des Netzauftritts eines großen Markenartiklers aus der Schweiz. Seine Stellschrauben sind benötigter Stundenumfang und verlangter Stundenlohn. Blöderweise lebt unser Bewerber in einem hochentwickelten Land mit saftigen Steuersätzen und hohen Lebenshaltungskosten. Will er sich am Ende gegen indische, chinesische oder ukrainische Webdesigner durchsetzen, wird dies wohl nur gelingen, wenn er beide Stellschrauben grenzwertig kalkuliert. Vermutlich wird er also faktisch länger arbeiten als veranschlagt und dem Kunden bei Nachfragen zudem unbegrenzt und unentgeltlich zur Verfügung stehen. Ist David S. nicht ein überragender Experte, läuft dies ersichtlich auf eine systematische Selbstausbeutung hinaus – das entsprechende Frustrationspotential bei Nichtberücksichtigung nicht eingerechnet.

Der beschriebene Effekt lässt sich im Netz bereits tausendfach auf entsprechenden Kommentarseiten finden – in der Praxis ist er als Superstar-Effekt bekannt. Der Lohn für die große Masse der Clickworker wird faktisch auf ein absolutes Minimum gedrückt. Auf der anderen Seite bekommen die besten Anbieter immer mehr Aufträge mit zugleich sehr gutem Lohn – und könnten eigentlich ihrerseits ein eigenes Unternehmen mit entsprechendem Talentpool aufmachen. Eine Studie aus Holland zeigt, dass bei dem Portal LastMinut ein Drittel der Aufträge an die sechs Prozent der Experten mit den besten Ratings geht. Werden die Plattformen künftig noch mehr Arbeitsvolumen auf sich ziehen, dürfte die Ungleichheit weiter zunehmen – und zugleich ein großes Heer digitaler Plebs entstehen. Ungeachtet dessen entsteht durch diese Technologie ein wahrlich globaler Arbeitsmarkt.

Zugleich wächst den wichtigsten Online-Portalen durch ihr Feedback-System eine enorme Macht zu – gewollt oder ungewollt entscheiden sie über die Verdienst- und damit auch Lebensmöglichkeiten von Millionen Menschen und Familien. Kein Wunder, dass sich aus dem Kreis der Betroffenen mitsamt einiger Gewerkschaften die Stimmen mehren, die eine Offenlegung oder sogar Zertifizierung sowohl der Auswahl- als auch der Bewertungsalgorithmen fordern.

Für die Broker ist die projekt- und bedarfsweise Verkuppelung von Unternehmen und Arbeitskraft natürlich ein gutes Geschäft. Man finanziert sich über Provisionen, also einen gewissen Anteil an der Auftragssumme. Über deren genaue Höhe weiß man wenig. Upworks soll zwischen 5 und 20% der Auftragssumme kassieren; Twago bis zu 10%. Einige Portale verkaufen auch sog. Premium-Abos, mit denen der Anbieter sein virtuelles Portrait aufhübschen darf und z.B. mehr Raum für die Selbstdarstellung und Eigenwerbung bekommt. Ein Insider erzählte mir, dass man gegen Bezahlung bisweilen auch schlechte Kundenbewertungen löschen lassen kann.

Ohne Geschäftsrisiko und mit kaum eigenem Personal winkt den Plattformen die große Rendite. Aber auch für die Firmen als eigentliche Kunden der Portale geht die Rechnung auf: Die eigenen Personalaufwendungen werden ebenso minimiert wie die Fixkosten, sollten die Geschäfte mal nicht so laufen. Das ist eben auch ein Mehrwert von Plattformen: Sie besitzen die Fähigkeit, nicht nur betriebliche, sondern auch externe Ressourcen in die Wertschöpfung zu integrieren.

Fiktionen à la Star Trek
Robotersteuer und bedingungsloses Grundeinkommen
Die beschriebenen Geschäftsmodelle bezeichnet die Wissenschaft daher auch als Sharing- oder Gig-Economy. Der Begriff Sharing-Economy ist allerdings irreführend, suggeriert er doch eine altruistisch-kooperative Tauschbeziehung, fast wie zwischen Nachbarn üblich. Andererseits ist der Begriff auch entlarvend – schließlich handelt es sich eben doch um „Economy“, also ums Geschäft. „Gig-Economy“ ist da schon passender. Die Bezeichnung leitet sich ab von den US-Jazzklubs der 1920er Jahre, in denen die Musiker eben nur für den einzelnen Auftritt bezahlt wurden. Ihren Durchbruch feierte die Gig-Economy in den USA während der Krisenjahre 2008/2009. Viele Amerikaner fürchteten um ihre Arbeitsplätze und flüchteten sich in die Selbständigkeit – lieber prekäre Arbeit als gar keine.

In den USA wurden 2016 etwa 53 Millionen Freelancer registriert. Experten schätzen, dass sich diese Zahl bis 2020 deutlich erhöhen wird. Brian Rashid geht sogar davon aus, dass in wenigen Jahren etwa die Hälfte der US-amerikanischen Beschäftigten als Solo-Selbständige auftreten wird. Rashid, ein Unternehmensberater, bringt als entschiedener Befürworter dieser Entwicklung deren gedanklichen Kern begeistert auf den Punkt: „This on-demand-work (…) is moving more and more to independent professionals that are using mobile technology to create ecosystems of work they enjoy. Who says you cannot drive an Uber in the morning, design websites all afternoon, and carter your own food company at night. The old economy would lead you to believe that you should pick one job, work hard for the next 40 years at that company, and then retire. Not the new economy. The more diverse your skills are, the more opportunities come your way.”

In Großbritannien ist die Zahl derjenigen, die nur noch für Einzelaufträge bezahlt werden, seit 2010 ebenfalls drastisch gestiegen (Uber hat einen großen Anteil daran!). Sog. zero-hour contracts, die keine Mindestarbeitsstunden mehr garantieren, sind auf dem Vormarsch. In den vergangenen zehn Jahren hat die Zahl der Solo-Selbständigen auf diese Weise um rund ein Viertel auf über fünf Millionen zugenommen. Auch hier sehen sich die Plattformen primär als Vermittler von Arbeitsleistungen und nicht als Arbeitgeber im klassischen Sinne – mit den entsprechenden persönlichen wie gesellschaftlichen Konsequenzen.

Aber gemach: Das sind Ausnahmen! Die alte Arbeitswelt mit ihren gewohnten Absicherungen gegen Krankheit und Alter ist im alten Europa zwar bedroht, aber lange noch kein Auslaufmodell. Die Zahlen aus den USA sind zwar hoch, aber nicht ohne weiteres auf unser Wirtschaftssystem übertragbar. Seit 2017 arbeiten etwa 12% der Deutschen autonom-digital und liegen damit europaweit im Mittelfeld. Solo-Selbständige finden sich bei uns hauptsächlich in den Medien, in der Kunstszene sowie im beratenden Finanz- und IT-Bereich. Allerdings unterliegen in Deutschland inzwischen nur noch 60% aller Beschäftigten einer Tarifbindung; in der Privatwirtschaft liegt die Quote bereits unter 50%.

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Strukturenwechsel 2: Das Technium
Dass die Zahlen sowohl in den angelsächsischen Ländern als auch hierzulande (noch) nicht größer sind, hängt damit zusammen, dass sich bislang eben doch nur relativ wenige Menschen dieser Art von Selbständigkeit komplett mit Haut und Haaren verschrieben haben. In Studien wurden für die USA bis zu fünf verschiedene Gig-Typen identifiziert: Vom Side Gigger (der vor allem durch finanzielle Sicherheit und Jobflexibilität motiviert ist) über den gerade beschäftigungslosen Substituter (der seinen Lebensstandard sichern und/oder sich etwas dazuverdienen resp. das Arbeitslosengeld aufstocken will), bis hin zum Business Builder, der über großes Selbstvertrauen, Kompetenz und Tatkraft verfügt und sich letztlich aus den hierarchischen Bindungen klassischer Arbeit lösen möchte. Für die meisten bedeutet Plattformarbeit aber immer noch einen hübschen Nebenverdienst.

Dennoch ist langsam auch die Politik gefordert. Die paar dürren Zeilen, die sich im Koalitionsvertrag von CDU und SPD zur Digitalen Arbeitswelt finden, enttäuschen auf der ganzen Linie: nichts zu Vermittlungsportalen oder Solo-Unternehmertum. Auch die Gewerkschaften müssen sich noch sortieren; ihnen geht es verständlicherweise zunächst darum, herkömmliche Arbeitnehmerrechte wie Mitbestimmung und Arbeitsschutz auch in der Plattformwelt durchzusetzen. Erste Gerichtsurteile in England haben Uber dazu verpflichtet, die Fahrer wie normale Unternehmensangehörige zu behandeln und z.B. für deren Alter vorzusorgen. In den USA formiert sich immer offener die sog. Alt-Labor-Bewegung.

Denn was ist, wenn die Gig-Economy im Verbund mit dem allgegenwärtigen Internet zwar eine Fülle von Jobs kreiert, aber eben keine anständige Arbeit? Aus dem festen Arbeitsvertrag wird nun jedenfalls ein fungibler Dienstleistungsvertrag. Am Ende bewirkt die von den Portalen kommunizierte Befreiung und Selbstbestimmung möglicherweise das genaue Gegenteil: Wachsende Zwänge und steigende Fremdsteuerung.

Denken wir noch einmal an unseren abgehetzten Hermes-Fahrer. Er wird demnächst neue Konkurrenz bekommen: von Amazon Flex. Seit Ende letzten Jahres rekrutiert der Internetriese Personal für seinen geplanten Kurierdienst in Deutschland. In den USA war man bereits zum Weihnachtsgeschäft 2015 eingestiegen. Eine vierstündige Lieferschicht soll in Deutschland mit maximal 64 Euro entlohnt werden. Aus der Ausschreibung geht allerdings nicht hervor, ob sich Amazon an den Unterhaltskosten der Fahrzeuge oder etwaigen Sozialversicherungen beteiligen wird.

Wird fortgesetzt.


Dietrich von der Oelsnitz, Technische Universität Braunschweig, Institut für Unternehmensführung, Lehrstuhl für Organisation und Führung

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