Tichys Einblick
Serie Künstliche Intelligenz – Teil 2

Mit generativer KI in die dritte Singularität

Generative KI ist mehr als nur ein effizientes Werkzeug zur Datenverarbeitung. Sie bietet eine völlig neue Methode der Maschinensteuerung. Mit der adaptive und flexible Apparate möglich werden, die dem Menschen eine Vielzahl von Arbeiten abnehmen. Dies wird alle Lebensbereiche betreffen und alle Lebensverhältnisse umwälzen.

IMAGO / Westend61

Wie im ersten Teil der Artikelreihe beschrieben, ermöglicht ein im Jahr 2017 veröffentlichter Algorithmus die Übertragung von Datenmustern in andere Zusammenhänge oder gar andere digitale Kommunikationssysteme. Die in nicht-zufällig entstandenen Strukturen kodierte Bedeutung, die beispielsweise mit der Reihenfolge und Zusammenstellung von Wörtern eines Textes, mit der Kombination von Farben und Helligkeiten eines Bildes oder mit der Abfolge von Tönen eines Musikstückes zusammenhängt, bleibt bei der Durchführung einer derartigen Transformation in einem gewissen Umfang erhalten.

Voraussetzung ist ein intensives Training, durch das die diesem Formalismus zugrunde liegenden neuronalen Netze auf eine bestimmte Aufgabenstellung ausgerichtet werden. In deren Parametern wird dabei das in den Lerndaten enthaltene Wissen in komprimierter Form abgelegt und dadurch effizient nutzbar. Füttert man etwa ein solches, auch als generative Künstliche Intelligenz bezeichnetes System mit allem, was jemals geschrieben wurde, verfasst es gut lesbare Texte für jeden Anlass. Gleichermaßen kann es auf Übersetzen, Zeichnen und Visualisieren, Komponieren, Programmieren und vieles mehr ausgelegt werden. Die Resultate mögen nicht immer perfekt sein, aber es ist mitunter einfacher und vor allem schneller, maschinell erstellte Vorlagen zu optimieren, statt selbst bei null zu beginnen. Und vor allem bringt einen die KI als Assistenz vielleicht sogar auf neue Ideen, auf die man ohne ihre Anregung nicht gekommen wäre.

Aber generative KI vermag weit mehr zu leisten als lediglich die effizientere Abarbeitung von Aufgaben, die ohne sie auch bewältigt werden könnten. Denn die Daten, auf die man sie ausrichtet und mit denen sie arbeitet, müssen nicht statischer Natur sein. Von allerlei Sensoren gelieferte dynamische Echtzeit-Informationen aus der realen Welt eignen sich ebenfalls. Schließlich unterliegt auch diese impliziten Gestaltungsprinzipien. Dimensionen, Standorte, Bewegungen und Wechselwirkungen der in ihr vorkommenden Objekte sind nicht willkürlich festgelegt. Sie sind Folge einer Form von Planung, selbst wenn diese chaotisch erscheint, und gehorchen den Gesetzen der Physik. Und genau in solchen von übergeordneten Rahmenbedingungen abhängigen Zusammenhängen kommen die Stärken der generativen Transformer besonders effektiv zur Geltung. Weil ihr statistischer Algorithmus die Anwendung von Gesetzmäßigkeiten ermöglicht, ohne diese formulieren und interpretieren zu müssen.

Was man bislang unter einem „Roboter“ versteht, verdient diese Bezeichnung nicht wirklich. Denn es handelt sich lediglich um einfache Automaten, die exakt definierte, repetitive Aufgaben ausführen. Jede Bewegung und jede Interaktion ist ihnen gemäß eines vorab festgelegten Schemas vorzugeben. Sie sind nicht dazu in der Lage, diese Grenzen zu übertreten. Es mangelt ihnen also an jeglicher Flexibilität. Sie funktionieren nur in einer auf ihre Optionen ausgerichteten Arbeitsumgebung, die gegen jede Veränderung abgesichert sein muss. Einem Industrieroboter beispielsweise ist das immer gleiche Werkstück auf immer dieselbe Weise in immer derselben Geschwindigkeit zuzuführen, damit er es überhaupt bearbeiten kann.

Fahrerlose Transportsysteme benötigen Linien oder sonstige Kennzeichnungen, mitunter ein funkgestütztes Innenraum-Navigationssystem, und schaffen doch nichts anderes als immer dieselben Behälter auf immer denselben Wegen zu bewegen. Die Limitierungen dieses deterministischen, regelbasierten „wenn-dann“-Ansatzes zeigen sich deutlich am bislang nicht realisierbarem autonomen Automobil. Nicht nur müsste einem solchen jede Verkehrsregel, sondern gleich ein Verhalten für jede denkbare Verkehrssituation mitgegeben werden. Und eine Anpassung der Infrastruktur, von deutlichen Fahrbahnmarkierungen bis hin zu einer Fahrzeug-zu-Fahrzeug- oder Fahrzeug-zu-Infrastruktur-Kommunikation wäre außerdem erforderlich.

Generative KI begründet nun ein neues Paradigma für die Maschinenprogrammierung. Statt jede Eventualität vorauszudenken und im Programmcode abzubilden, leitet sich das Verhalten des Roboters aus Erfahrungen ab. Optische Kameras genügen schon, Menschen orientieren sich ja ebenfalls vorwiegend visuell, um Umweltinformationen in hinreichend gute Steuerungsbefehle für Motoren und Aktoren zu transformieren. Man beachte die Option, mit großen Sprachmodellen aus digitalen Bilddaten direkt lauffähige Programme zu generieren, also Code in Maschinensprache, den ein Prozessor direkt ohne Umweg über Compiler oder Interpreter verarbeiten kann – Echtzeitprogrammierung anhand von Echtzeitdaten. Das Training kann teils in virtuellen Umgebungen, teils durch Versuch-und-Irrtum, teils durch die Beobachtung von Menschen erfolgen.

Kinder, die ein Ballspiel lernen, lesen auch nicht erst ein Physikbuch und eignen sich trigonometrische Formeln an. Sie versuchen einfach so lange den Ball zu fangen, bis sie Geschwindigkeiten, Impulse, Flugbahnen und ihre eigene Position im Raum hinreichend gut einschätzen können. Teslas Autopilot lernt bereits auf diese Weise, aus den Videodaten, die rund eine Million Fahrzeuge täglich an die Zentrale übermitteln. Aber Automobile sind im Grunde langweilige Apparate mit gerade mal sechs Freiheitsgraden (vorwärts, rückwärts, links, rechts, beschleunigen und bremsen) und auf Transporte begrenztem Einsatzzweck. Die wahre Revolution geht von flexiblen und adaptiven humanoiden Robotern aus.

Humanoid deswegen, weil die artifizielle Lebensumwelt auf den Menschen und seine Physiologie ausgerichtet ist. Dimensionen, Interaktionsmöglichkeiten, Verbindungswege, alles für Wesen optimiert, die zwei Arme und zwei Beine haben, zwei Hände mit je fünf Fingern, nach vorne gerichtete, im normaloptischen Spektrum empfindliche Augen und seitlich angeordnete Ohren für akustische Wahrnehmungen in einem bestimmten Frequenzbereich. Jede Maschine, die sich in eine für Menschen gemachte Umgebung integrieren soll, um in dieser zu agieren, muss diese Konfiguration widerspiegeln. Und mit generativer KI als Steuerungssoftware kann sie nun auch lernen, die unterschiedlichsten Tätigkeiten zu übernehmen. Und zwar solche, die operativer Natur sind, bei denen es also darum geht, klar umrissene Handlungen zu bestimmten Zeitpunkten in der richtigen Reihenfolge durchzuführen.

Fast alles, was Menschen den ganzen Tag über machen, fällt unter diese Kategorie. Es betrifft jeden Bereich, von der Hausarbeit über den Einkauf bis hin zu Bürotätigkeiten, von der Logistik bis hin zur Güterproduktion. Humanoide Roboter können mithilfe generativer KI lernen, Maschinen und Werkzeuge zu bedienen wie Menschen auch. Es braucht keinen spezialisierten „Staubsaugerroboter“ mehr, der ja nicht mehr als eine dumme, in wirren Trajektorien auf dem Boden herumfahrende rotierende Bürste darstellt. Der elektromechanische Zeitgenosse nimmt einfach den herkömmlichen Staubsauger in die Hand – wie ein Mensch (oder den Putzlappen, den Staubwedel, den Besen). Er kann den Rasen mähen, den Abfall sortieren und an die Straße stellen (wo ihn dann die robotisierte Müllabfuhr abholt), die Fenster putzen, Spül- und Waschmaschine ein- und ausräumen und starten und vieles mehr. Im gewerblichen Zusammenhang wird er körperlich anstrengende und riskante Arbeiten übernehmen. Und Werkzeugmaschinen in Fabriken bedienen. Autonome Autos sind ebenfalls überflüssig, Fahrzeuge und Verkehrsinfrastrukturen können bleiben wie sie sind. Denn es genügt, den Roboter ans Steuer zu setzen, wenn er einem menschlichen Piloten als Beifahrer lange genug zugesehen hat.

Dies umreißt die Folgen der Verknüpfung einer bereits bemerkenswerten Agilität elektromechanischer Humanoide, wie sie Boston Dynamics seit Jahren entwickelt, mit der exponentiellen Entwicklung im Bereich der generativen KI. Teslas Optimus demonstriert, wie allein aus Kameradaten die gezielte Bewegung im dreidimensionalen Raum möglich wird und man Greif- und Sortiertätigkeiten dem Menschen abschaut. Figure lässt seinen „01“ innerhalb von zehn Stunden allein aus Beobachtungen und Videodaten lernen, eine Kaffeemaschine zu bedienen. Digit von Agility Robotics zeigt, wie humanoide Roboter in Logistikzentren zum Einsatz kommen. Engineered Arts verleiht seinen Robotern durch generative KI beeindruckende Kommunikationsfertigkeiten. Und wer nun immer noch zweifelt, schaue sich an, wie sich der an der Stanford University entwickelte Aloha in einer Küche benimmt.

Das Aufkommen solcher Apparate markiert nicht mehr und nicht weniger als die dritte Singularität in der Menschheitsgeschichte. Man sollte sich vor dieser nicht fürchten, zwar ist der Begriff heute meist dystopisch besetzt, seine ursprüngliche, durch John von Neumann geprägte Bedeutung meint jedoch wertneutral eine Umwälzung, nach der sich alle Lebensverhältnisse umfassend ändern. Mit der Entwicklung der Landwirtschaft in der Jungsteinzeit und der industriellen Revolution im 18. und 19. Jahrhundert hat die Zivilisation bereits zwei solcher Singularitäten erlebt (und überaus erfolgreich gestaltet). Mit der dritten wird es ähnlich ablaufen. Humanoide Roboter befreien die Menschheit von Langeweile und Mühsal, sie ermöglichen ihr die Konzentration auf kreative und strategische Tätigkeiten.

Natürlich bedarf eine Welt, in der Roboter wesentlich zur Wertschöpfung beitragen, neuer Strukturen und neuer Prozesse. Gesellschaften werden sich völlig anders organisieren als bislang, es stehen soziale Veränderungen in einer Größenordnung an, wie sie einst durch den Übergang zu sesshaften, das Land formenden Ackerbaukulturen und tausende Jahre später erneut durch die maschinelle Substitution menschlicher und tierischer Muskelkraft ebenfalls induziert wurden. Welche das sein könnten, ist derzeit nicht absehbar. Aber die Debatte darüber ist dringend zu führen, denn die dritte Singularität ist kein Ereignis der fernen Zukunft. Sie beginnt jetzt, hier und heute, unverzüglich.

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