Tichys Einblick
Kein Mut, keine Ideen, keine Konzepte

Für die Wirtschaft ist ein paralysiertes Berlin das beste Berlin

Der dringend erforderliche Neustart in der Wirtschaftspolitik wird auch nach der Bundestagswahl ausbleiben. Keine Partei hat ein kluges Rezept für die Zukunft, die hiesige Unternehmen ohnehin nicht mehr prägen. Man weigert sich sogar, wirkmächtige Innovationen überhaupt wahrzunehmen. Da sollte man Wirtschaftspolitik vielleicht besser ganz bleiben lassen.

Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Berlin

IMAGO / Schöning

Die wirtschaftspolitischen Konzepte aller Parteien lassen sich entlang einer Linie von „Degrowth“ am linken und „Bestandssicherung“ am rechten Ende aufreihen. Die formulierte Programmatik liegt meist zwischen diesen beiden Extremen. Der eine Pol basiert auf dem Irrtum, wertschöpfungsorientiertes Wirtschaften zerstöre die für das Fortdauern der Menschheit unabdingbar notwendige irdische Ökosphäre. Obwohl es keine „natürlichen“ Lebensgrundlagen gibt. Die moderne Zivilisation gedeiht ausschließlich und unabhängig von der Natur auf dem Fundament technischer Systeme, die der Kapitalismus erst ermöglicht. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die das zumindest erahnen und alle Wertschöpfungsketten so erhalten wollen, wie sie sind.

Deutschland lebt halt vor allem von Branchen, deren Wurzeln in das neunzehnte Jahrhundert zurückreichen. Das lange Zeit erfolgreiche Modell der Anpassung an sich ändernde Bedarfe – verbunden mit der stetigen Modernisierung der Produkte und Prozesse – gelangt jedoch angesichts des zunehmenden globalen Wettbewerbs an seine Grenzen. Andere Länder und Wirtschaftsräume haben nicht nur aufgeholt, sondern eingeholt und sind uns hinsichtlich der Qualität und des Preis-/Leistungsverhältnisses ihrer Erzeugnisse teilweise sogar überlegen. Und daher sind wir nicht mehr resilient gegen Krisen, gegen externe Schocks wie auch gegen hausgemachten Unfug.

Vor drei oder vier Jahrzehnten hätte die deutsche Wirtschaft sowohl den russischen Überfall auf die Ukraine als auch einen grünen Wirtschaftsminister einfach weggesteckt – und stoisch die Welt mit Maschinen und hochwertigen Komponenten versorgt. Heute dagegen taumelt sie nach nur drei Jahren Habeck am Abgrund. Weil Stahl und Kunststoffe, Maschinen und Werkzeuge, Fahr- und Flugzeuge, Lebensmittel und Medikamente in anderen Wirtschaftsräumen mindestens ebenso gut und ebenso verlässlich zu geringeren Kosten entstehen. Was die zum Postwachstum neigende Transformationsagenda den Unternehmen an finanziellen und regulatorischen Belastungen aufdrückt, kann daher nicht mehr durch höhere Exporterlöse aufgefangen werden.

Innovationen, die über Optimierungen und Effizienzsteigerungen hinausgehen, spielen in der hiesigen politischen Landschaft keine Rolle. Sie werden wahlweise gar nicht erst wahrgenommen, aktiv ignoriert oder mit großer Skepsis betrachtet. Obwohl doch gerade jetzt umwälzende Entwicklungen aus kreativen Gehirnen und Laboren ans Tageslicht drängen, die völlig neue Märkte schaffen. Und unsere Arbeits- und Lebensweise auf völlig neue Fundamente stellen. Politiker aller Strömungen aber schweigen dazu. So interessant die Aufregung auch ist, die Elon Musk mit einem Tweet auf X auslösen kann, so aufregender ist doch, was seine Firmen treiben. Und mag er auch aufgrund seiner Finanzstärke momentan im Fokus stehen, die Liste der Zukunftsmacher ist lang. Deutsche Namen sind auf dieser selten geworden.

Natürlich ist eine schon in der Trägheit der Fortschrittsbremser sozialisierte Politikergeneration nicht allein für die Innovationsschwäche der deutschen Wirtschaft verantwortlich. Ideologisierte Medien und die Übernahme der Managementetagen durch eine Kaste eloquent auftretender Buchhalter haben ihren Anteil an Fortschrittsverleugnung und technischer Stagnation. Die Digitalisierung haben wir verpasst und hecheln ihr heute nur mehr hinterher. Die Gen- und die Kerntechnik haben wir aus Furcht vertrieben und uns dadurch abhängig gemacht von ausländischen Kompetenzen. Die Luft- und Raumfahrt haben wir aus Bequemlichkeit den Bürokraten überlassen, damit sich auch bestimmt nichts ändert.

Die vielleicht letzte Innovation aus Deutschland mit global prägender Strahlwirkung datiert auf das Jahr 1919. Die F 13 von Hugo Junkers kann als das erste moderne Passagierflugzeug verstanden werden, dessen Gestaltung und Bauweise bis heute prägend für die zivile Luftfahrt sind. Junkers, dessen Flugzeuge in den 1920er Jahren fast die Hälfte des weltweiten Luftverkehrs abwickelten, reiht sich ein in eine Kette von Köpfen wie Siemens, Borsig, Benz, Opel, Porsche, Focke, Zuse, Grundig, Nixdorf und viele weitere. Alle tot und vergangen, wenn auch ihre klingenden Namen zum Teil als Markenbezeichnungen weiterleben. Es gibt heute keinen Gründer und Wirtschaftslenker in Deutschland, der diesen Champions gleichkäme. Man findet ihre Nachfolger vor allem in Nordamerika und Ostasien.

Von dort stammen dann auch die Fusionsreaktoren, die voraussichtlich noch in diesem Jahr erstmals erfolgreich Netto-Energiegewinn demonstrieren werden. Dort entwickelt man die Algorithmen der generativen Künstlichen Intelligenz, die in Fahrzeugen und (humanoiden) Robotern bald schon dem Menschen auch in dynamischen und chaotischen Umgebungen alle stupiden und repetitiven Tätigkeiten abnehmen können. Dort werden dann auch die neuen Methoden der Gentechnik eingesetzt, um die konventionelle Landwirtschaft durch Bioreaktoren und hydroponische Anlagen zu ersetzen. Dort entwickelt sich die synthetische Biologie als eine Form der Nanotechnik, die Medizin und Pharmazeutik revolutioniert. Dort erobert man den Luftraum für den Individualverkehr, für Personen und Güter gleichermaßen. Von dort aus schließlich stößt man in den Weltraum vor, in den erdnahen Orbit und zu Mond, Mars und Asteroiden. Nicht primär zu Forschungszwecken, nein, sondern um das All als Wirtschafts- und Lebensraum zu öffnen.

Eine Welt, in der Energie im Überfluss verfügbar ist und auch sonst alle Knappheiten verschwinden, ist längst keine Utopie mehr, sondern eine machbare Vision. Eine Welt, in der Roboter unsere Bedarfe in allen Aspekten erfüllen und uns darüber hinaus mit allen Annehmlichkeiten versorgen, ist längst keine Science-Fiction-Phantasie mehr, sondern eine kalkulierbare Perspektive. Eine Welt, in der Menschen sehr lange leben, wenn nicht gar potentiell unsterblich sind, weil wirksame Therapien für alle Krankheiten inklusive des Alterns zur Verfügung stehen, kann mit realen Erfolgsaussichten angestrebt werden. Und eine Welt, in der Menschen nicht mit Lufttaxis unterwegs sind, nicht auf Raumstationen arbeiten, keine Shows auf dem Mond genießen und nicht auf dem Mars Skifahren, ist schlicht nicht mehr vorstellbar.

Niemand aber fragt sich, wie man eine solche Welt, eine solche Zivilisation organisieren könnte. Wie entsteht und diffundiert Wohlstand, wenn nahezu alle Wertschöpfung durch autonom agierende Maschinen erfolgt? Welche Regierungsform passt zu einer Gesellschaft autark agierender Individuen, die nicht nur in Bezug auf Information und Kommunikation, sondern zur Erfüllung aller ihrer Bedarfe Zugriff auf technische Werkzeuge bislang ungekannter Leistungsfähigkeit haben? Solchen Themen könnten sich doch jene widmen, die heute behaupten, mit ihrer Politik Verantwortung für kommende Generationen zu übernehmen.

Vielleicht aber greifen diese Fragen jetzt zu weit. Vielleicht kann man singuläre Momente der Menschheitsgeschichte nicht im Vorgriff verstehen und steuern. So, wie ein jungsteinzeitlicher Jäger und Sammler mit der Konzeption einer Agrargesellschaft und ein Handwerker des Hochmittelalters mit der Einschätzung der Folgen der industriellen Revolution überfordert gewesen wären, gelangen wohl auch wir an die Grenzen unserer Planungsfähigkeit. Zumal das Metaversum als globaler, dezentraler Freihandelsraum und die Verschmelzung von Mensch und Maschine zu den oben genannten Themen ja noch hinzukommen.

Es gibt natürlich zarte Pflänzchen hierzulande, die bei der Gestaltung der Zukunft mitmischen wollen, statt sich nur der Verwaltung der Gegenwart zu widmen. Junge Unternehmen, die Fusionsreaktoren entwickeln, Raketen bauen, Satelliten konstruieren, Transportdrohnen testen und das fliegende Pendant zum Automobil präsentieren. Aber man pflegt und ermuntert sie zu wenig. Weit eher überzieht man sie mit Unglauben, Ablehnung, Spott und Häme. Und kaum ein Politiker setzt sich dafür ein, das zu ändern. Natürlich gibt es gute Argumente, die gegen staatliche Zuwendungen an trudelnde Firmen wie Lilium oder Volocopter sprechen. Aber das Problem, in Deutschland privates Risikokapital zu mobilisieren, lösen solche Debatten nicht. Nordamerikanern oder Chinesen trauen Investoren mittlerweile alles zu, Deutschen und anderen Europäern nahezu nichts. Selbst große Konzerne siedeln sich nur mehr nach stattlichen Gastgeschenken bei uns an. Eine weitere Standortschwäche, die zu selten gesehen und adressiert wird.

Obwohl sie doch Schlange stehen sollten, die Techgiganten und Finanzmagnaten, um gerade hier ihre Produktion auszuweiten und ihr Geld zu vermehren. Denn kaum ein Land auf diesem Planeten bietet so viel geballte Kompetenz in der Fertigungstechnik und im Anlagenbau, verteilt auf zehntausende mittelständische Firmen mit Millionen hochqualifizierten Mitarbeitern. Bahnbrechende technische Systeme als händisch verschraubte Einzelstücke im Technikum zu demonstrieren, stellt ja nur einen ersten Schritt dar. Sie danach in großen Stückzahlen mit höchsten Qualitätsansprüchen in Serie zu produzieren, Beratung und Vertrieb zu organisieren und Wartungs- und Reparaturdienste aufzubauen, bedarf schon etwas mehr als nur visionärer Willenskraft.

In den nächsten Jahren werden die Komponenten für dutzende Raumstationen und lunare Habitate, hunderte Fusionskraftwerke, tausende Trägerraketen, zehntausende Satelliten, hunderttausende Flugautos (für Fracht- und Personentransporte), und Millionen, wenn nicht Milliarden Roboter gebraucht. Das Spektrum der hierzu notwendigen Bauteile reicht von mechanischen Strukturelementen bis zu komplexen mechatronischen und elektronischen Teilsystemen. Und wenn jemand weiß, wie man solche gleichermaßen effizient wie hochwertig in großen Mengen herstellt, dann wir. Es gilt für unsere Unternehmen, in den neu entstehenden Wertschöpfungsketten strategische Positionen zu erringen, von denen man sie so schnell nicht wieder vertreiben kann.

Ideen oder gar Pläne für diese Chancen existieren nicht. Über flankierende wirtschaftspolitische Maßnahmen denkt niemand nach. Die bevorstehende Bundestagswahl ändert daran nichts, da sie wieder nur im Zeichen des Kampfes zwischen der euphemistisch mit dem Begriff „Transformation“ etikettierten ökologistisch motivierten Zerstörung einerseits und strukturkonservativer Bewahrung andererseits steht. Volkswagens Problem, um das mal exemplarisch zu verdeutlichen, wurzelt aber nicht in Verbrennerverboten und einem Mangel an billigen Batteriekarren. Volkswagen ist schlicht unproduktiv. Der Konzern baut mit mehr als doppelt so vielen Mitarbeitern weniger Automobile als Toyota, weil er noch immer kein Digitalkonzern mit angeschlossener Fertigung ist, in der Roboter andere Roboter zusammensetzen, die gehen, fahren oder fliegen. Damit dieser und andere schlafende Riesen ihr wahres Potential entfalten, ihre Zulieferer mitziehen und ihr Portfolio diversifizieren können, hilft gegenwärtig nur, die Gestaltungsmacht jeder für Februar denkbaren Regierungskonstellation signifikant zu beschneiden.

Was gelingt, wenn einerseits möglichst viele Gruppierungen in den Bundestag einziehen und andererseits möglichst viele Stimmen hinter den nach links und rechts aufgebauten Brandmauern landen. Was erneut eine Koalition erzwingt, die wissend um ihre bröckelnde Legitimation rasch an grundsätzlichen Unvereinbarkeiten zerbricht. Für die Wirtschaft ist ein paralysiertes Berlin das beste Berlin, denn Nichtstun ist immer noch besser als alle gegenwärtig vorliegenden wirtschaftspolitischen Ansätze. Den Rest des Weges müssen die Firmen dann allein zurücklegen und die Bremser in den Chefetagen aus eigener Kraft durch ehrgeizige Macher wie eine Gwynne Shotwell, einen Peter Beck, einen Bratt Adcock, einen Huazhi Hu, eine Shulamit Levenberg, einen Guillaume Verdon, einen David Kirtley oder einen Sam Altman ersetzen. Dann wird es auch wieder was mit der Renaissance von „Made in Germany“ als Gütesiegel und Maßstab für die Welt.


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