Telefonat mit einem entfernteren Verwandten, betagt, aber noch wach und lebenslustig. Er ist promovierter Historiker, Musikliebhaber, gebildet, sensibel, Ästhet durch und durch. Es geht um die Zersiedlung der Landschaft. Schrecklich, meint er. Diese Betonklötze überall, die Neubau- und Gewerbegebiete. Bald bleibe nichts mehr übrig von der Schönheit vergangener Zeiten. Und die Windräder, wirft man ein, die seien doch der endgültige Todesstoß für unsere Landschaften. Ach, entgegnet er leichthin, um die gehe es ihm nicht. Irgendwoher müsse der Strom ja kommen.
Wie kommt es, dass ein Mensch, der sich jahrzehntelang hauptberuflich darum kümmerte und dafür kämpfte, altes Kulturgut zu erhalten, die verheerenden landschaftsästhetischen Auswirkungen von mittlerweile rund 30.000 Windkraftwerken landauf, landab, nicht wahrnimmt? Und der noch dazu in einer Region lebt, die von der Windindustrie nahezu vollständig massakriert, ihres anmutigen Charakters beraubt und in ein riesiges Industriegebiet verwandelt wurde. Wie kann man den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen? Wie kann man offenbar die eigenen Wertmaßstäbe, das Urteil darüber, was schön und nicht schön ist, so vollständig verdrängen oder gar verraten?
Der Landschaftsarchitekt Werner Nohl, der als (heute emeritierter) Professor am Wissenschaftszentrum Weihenstephan der Technischen Universität München (TUM) über Jahrzehnte die Wahrnehmung landschaftlicher Reize erforschte, meint die Antwort auf diese Frage zu kennen. Sie liege im Zusammenprall von Wissen, hier ökologischem Wissen und ästhetischer Wertschätzung. Ein Beispiel: Vom rein ökologischen Standpunkt aus betrachtet seien Weinlandschaften wie der Rheingau, das Moseltal oder der Kaiserstuhl der reine Horror: riesige, frei geräumte Monokulturen, die intensiv mit Agrarchemie behandelt werden.
Ein (vielleicht sogar abstinent lebender) Umweltschützer würde sie meiden wie die Pest und die Frage, ob er diese Landschaften schön finde, sicher mit einem klaren Nein beantworten. Ein passionierter Weinkenner dagegen würde die gezirkelten Schachbrettmuster der Rebparzellen preisen und die wertvollen Kreszenzen, die ihnen entstammen. Für ihn sind Weinlandschaften, vor allem wenn sie in der herbstlichen Erntezeit in Gold und bunten Farben erglühen, ein ästhetisches Labsal.
„Umwertung der Werte“
Noch diffiziler wird es, wenn das Wissen hinter der ästhetischen Wahrnehmung durch Werbung und Propaganda verzerrt wird. Eine derart manipulativ gesteuerte „Umwertung der Werte“ liege beispielsweise vor, wenn jemand einen Windpark, den er im Akt des spontan-persönlichen Erlebens eigentlich nicht schön findet, aufgrund fortgesetzter Propagierung der Windenergie durch einflussreiche gesellschaftliche Institutionen schließlich doch ästhetisch bejahe, schreibt Nohl in einem Beitrag zu den „Göttinger Schriften zu Landschaftsinterpretation und Tourismus“. Er opfere dann in einem Akt identifikatorischer Anpassung seine eigenen landschaftsästhetischen Bedürfnisse und Gefühle fremden, außerästhetischen Werten. „Manipulationen dieser Art zielen darauf ab, die Menschen dazu zu bringen, Landschaft ästhetisch so zu erleben, wie sie sie erleben sollen.“
Die Gründe für diese von Fremdkräften beabsichtigte Selbstzerstörung der eigenen ästhetischen Werte liegen laut Nohl auf der Hand: „Die Betroffenen möchten bezüglich der regenerativen Energiepolitik mit ihren persönlichen ästhetischen Wertauffassungen nicht alleine dastehen, wenn in der öffentlichen Meinung die Windenergiepolitik als nachhaltig und ökologisch und damit als moralisch geboten darge stellt wird.“ Dabei hat Nohl mittels der Technik sogenannter vergleichender Landschaftsbildbewertung statistisch signifikant nachgewiesen, dass unbeeinflusste Menschen die turmhoch aufragenden, Horizonte sperrenden, aus der Nähe bedrängend wirkenden Rotoren meist als weniger „schön“ empfinden als eine traditionelle, bäuerliche Kulturlandschaft mit ihrem rhythmischen und maßstäblichen Neben- und Ineinander von Feldern, Äckern, Wäldern, Wasserläufen, Baudenkmälern und Siedlungen, das noch nicht großtechnisch überbaut wurde und in dem der Kirchturm noch den höchsten Punkt im Blickfeld darstellt.
Warum die Zeichen der industriell technischen Epoche oft als störend wahrgenommen werden, erklärt Nohl mit dem Bedürfnis des modernen Menschen, sich immer wieder zu vergewissern, „dass wir nicht nur Geist, sondern auch Natur sind“. Bis heute erlebten die Menschen die agrarisch und forstlich genutzten Außenbereiche in aller Regel als „Bild friedvoller, ästhetischemotional anrührender Natur“, die sie in den verstädterten Gebieten oft vergeblich suchten.
Das, was Nohl nun die „identifikatorische Anpassung“ an „fremde, außerästhetische Werte“ nennt, ist in Deutschland besonders stark ausgeprägt. Die jahrzehntelange Klima- und Ökopropaganda im Verein mit der historisch bedingten Abwertung all dessen, was mit Nation und Heimat zusammenhängt, hat bewirkt, dass dem landschaftsästhetischen Armageddon, das die Erneuerbare-Energien-Industrie schon angerichtet hat und bis zur Zerstörung der allerletzten verbliebenen Refugien durchziehen will, kaum Widerstand entgegengebracht wird.
Wenn, dann geht es um den Schutz der Vogelwelt, der eigenen Immobilie oder um grundlegende Kritik an den technischen und ökonomischen Folgen der Energiewende. In der behördlichen Abwägung der verschiedenen „Schutzgüter“ im immissionsrechtlichen Genehmigungsverfahren steht der Landschaftsschutz meist an letzter Stelle. Landschaftsgenuss wird hierzulande als Quantité négligeable betrachtet, als eine, wenn es hochkommt, persönliche Geschmacksfrage, die sich wichtigeren Erwägungen unterzuordnen hat. Dabei wird im Bundesnaturschutzgesetz ausdrücklich die Verpflichtung formuliert, Natur und Landschaft so zu pflegen und zu schützen, dass „Vielfalt, Eigen art und Schönheit sowie der Erholungs wert dauerhaft gesichert sind“.
So vollständig wie in Deutschland ist die Umwertung der Werte in anderen Ländern (noch) nicht gelungen. Vor allem in Frankreich speist sich der Widerstand gegen die Invasion der „éolien nes“, wie Windräder auf Französisch heißen, zu einem guten Teil aus dem patriotisch grundierten Bedürfnis, das nationale Kulturerbe, zu dem auch die Kulturlandschaften zählen, zu pflegen und zu erhalten. Trotzdem ist der Druck auch dort immens, eigenes ästhetisches Empfinden den neuen, angeblich unabänderlichen Realitäten anzupassen. Ein Druck, dem offenbar auch der neue italienische Umweltminister Roberto Cingolani nachzugeben bereit ist.
Die vielen Corona- und Klimamilliarden der EU sollen nämlich auch in viele neue Windräder und Solaranlagen gesteckt werden, mit denen womöglich bald die bei deutschen Linken so geschätzten Zweitwohnungsrefugien in der Toskana zugepflastert werden, worüber sich nicht zuletzt die Mafia freuen wird. O-Ton des Herrn Ministers in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“: „Wir müssen unsere Kinder mehr lieben als unsere Vergangenheit.“ Und die Reporterin kommentiert zustimmend: Cingolani mute dem Land einen „jähen Traditionsbruch“ zu. Im „rückwärtsgewandten Italien“ dominiere seit Jahrzehnten die Gleichsetzung von Umweltschutz und Unantastbarkeit der Natur. Damit werde jetzt Schluss sein müssen.
Windräder in schöne Landschaften
In Deutschland, dem Mutterland der Energiewende, ist man schon einen Schritt weiter. Hier arbeiten Menschen wie Sören Schöbel seit längerer Zeit aktiv an der Umwertung und Entwertung der Werte. Schöbel ist, wie Nohl, Landschaftsarchitekt und Professor an der Technischen Universität München. Er ist der Meinung, dass man mit Windrädern Landschaften noch schöner machen kann. Deswegen plädiert er dafür, Windkraftwerke gerade in schöne Landschaften zu stellen.
Weil sie sich nicht verstecken ließen, müssten sie nach „landschaftsästhetischen“ Gesichtspunkten in die bestehenden Landschaften eingefügt werden. Man könne sie, wie Schöbel meint und landauf, landab propagiert, entlang von markanten Höhenzügen oder anderen „starken“ Landschaftsstrukturen so platzieren, dass sie die Züge dieser Landschaften gewissermaßen überhöhten. Das seien dann zwar neue Landschaften, die seien aber im Zweifelsfall nicht weniger schön als die alten, die ohne Windräder.
Den besonderen Schutz herkömmlich „schöner“ Landschaften lehnt Schöbel ab. Ihm liegen die „Alltagslandschaften“ am Herzen, die mehr oder weniger be- und zersiedelten Speckgürtel rund um die Städte, wo viele Menschen leben. Es sei unethisch, argumentiert er, diese „vorbelasteten“ Landschaften noch weiter zu belasten, etwa durch Windräder und Solarkraftwerke, die man ja für die Energiewende brauche. Deswegen gehörten diese Anlagen dorthin, wo noch nichts steht. Etwa in die letzten, relativ unberührten Mittelgebirgsregionen, vielleicht gar in die Alpen. Eben überall dorthin, wo es (noch) schön ist eben.
Die Diskussion über Landschaftsästhetik will Schöbel als „Zukunftsdiskurs“ verstanden wissen, was so viel heißt wie: Der Schutz traditioneller Kultur- und Naturlandschaften ist altes Denken von alten, konservativen Männern. Windkraftanlagen seien als neue Elemente in die Kulturlandschaft zu integrieren und dürften nicht als Fremdkörper gesehen werden. Die Jungen hätten das schon längst kapiert.
Schöbel und seinen zahlreichen Mitstreitern geht es darum, eine neue Ästhetik zu etablieren und die Erinnerung an frühere Begriffe von Schönheit und Harmonie auszulöschen. Dass seine Versuche, Windräder nach den Regeln dieser neuen Ästhetik zu platzieren, bislang fehlschlugen, weil in einem dicht besiedelten und von mannigfaltigen, einander überlappenden Interessen zerfurchten Land „großen Würfe“ meist nicht realisierbar sind, ficht ihn nicht an. Jedenfalls ist es bislang nicht Stand der Planung, Windenergieanlagen so zu positionieren, dass sie natürliche Landschaftsformen nachzeichnen.
Die Anlagen werden vielmehr dort errichtet, wo der Wind weht, keine behördlichen Restriktionen bestehen und wo es im Zweifelsfall am wenigsten Widerstand seitens der Bevölkerung gibt. Und so ähnelt Schöbel ein wenig jenen Angehörigen seiner Zunft, die sich am Ende schon mal willig Autokraten in die Arme werfen, um ungehindert ihre großsprecherischen Entwürfe verwirklichen zu können.
„Architekturen des Versprechens“
Zu den Propagandisten der schönen neuen Energielandschaften gehört auch Architekturkritiker Gerhard Matzig. In einem „Süddeutsche“-Beitrag über ein geplantes Ökohochhaus am Rotterdamer Hafen, eine 174 Meter hohe Kreuzung aus einem Solar- sowie einem neuartigen, rotorfreien Windkraftwerk, die aussieht wie ein Monster-Donut und auch bewohnbar sein soll, sinniert er schwärmerisch über die Notwendigkeit, den apokalyptischen Bildern der „Klimakrise“ nun „Zeichen der Hoffnung und Architekturen des Versprechens“ entgegenzusetzen. Gefragt seien jetzt „nicht nur Ökobilanzen, sondern Ästhetiken“.
Architekten, Landschaftsplaner und Designer sollten sich ans Werk machen, denn sie beherrschten die Kunst, „Sonne und Wind zu Symbolen einer wiederum erneuerten Zeit zu machen“. Matzig fordert ein „futuristisches Manifest 2.0“, anknüpfend an Filippo Marinettis Gründungsmanifest des Futurismus aus dem Jahr 1909. Immerhin ist dem Autor aufgefallen, dass dieses Manifest die deutliche Sprache des Totalitarismus sprach. Aus der Architekturströmung des Futurismus gingen auch Pläne für die ersten „Höhenwindkraftwerke“ hervor, entwickelt von dem badischen Erfinder Hermann Honnef. 1932 pries der „Völkische Beobachter“ Honnefs Vision eines „riesenhaften Projektes, dessen Verwirklichung eine völlige Umwälzung unserer wirtschaftlichen Verhältnisse herbeiführen wird“. Also: Alles schon mal da gewesen.