Seit jeher prägt das Ringen zwischen Glauben und Wissen die Entwicklung der menschlichen Zivilisation. Seit jeher steht die vorbehaltlose Akzeptanz einer von anerkannten Autoritäten formulierten Maxime gegen deren kritische Überprüfung. Und seit jeher lockt die intellektuelle Anpassung an den vorherrschenden Zeitgeist mit dem berauschenden Gefühl moralischer Überlegenheit und dem Versprechen sinnstiftender Orientierung. Konformität erleichtert Kooperation, was jene zusätzlich belohnt, die sich trotz fehlender Evidenz an etablierte Anschauungen klammern. Allzu ernüchternd gestaltet sich im Vergleich der anstrengende Erwerb von Wissen, der ja auch nicht mit letztgültigen Wahrheiten belohnt. Aber eine unvoreingenommene Berücksichtigung der Fakten gestattet zumindest, manche nicht zweifelsfrei belegbare Überzeugungen als potentielle Irrtümer zu identifizieren.
Wissen induziert Fragen, deren Beantwortung Glaubenssätze als Mumpitz entlarvt und neues Wissen schafft. Der Beharrlichkeit des Glaubens obliegt es, den so ermöglichten Fortschritt in akzeptable Bahnen zu lenken. Problematisch wird dieser im historischen Verlauf nicht selten fruchtbare Konflikt, wenn der Glauben von einer spirituell höchst anziehenden These ausgeht, deren scheinbare Offensichtlichkeit jeden Zweifel axiomatisch als gleichermaßen unhaltbar wie verwerflich verurteilt. Wann immer sich Gemeinwesen einer solchen Direktive unterwerfen, folgen Stagnation und Niedergang.
Deren bis heute anerkannte Definition auf den 1987 unter dem Titel „Unsere gemeinsame Zukunft“ veröffentlichten Abschlussbericht der von der UN eingesetzten „Weltkommission für Umwelt und Entwicklung“ zurückgeht. Demgemäß eine Entwicklung dann „nachhaltig“ sei, wenn sie gegenwärtige Bedürfnisse befriedige, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu riskieren, ihren Bedürfnissen ebenfalls nachzukommen. Das zuvor wertneutrale Synonym für „Beständigkeit“, „Wirksamkeit“ oder „Nachdrücklichkeit“ meint seitdem „Generationengerechtigkeit“. Notwendig seien an dieser Vorgabe ausgerichtete, jedes menschliche Handeln betreffende Verhaltensänderungen, weil andernfalls die mit der Zerstörung „natürlicher Lebensgrundlagen“ einhergehende Überschreitung absoluter Wachstumsgrenzen drohe. Im alltäglichen Sprachgebrauch steht „Nachhaltigkeit“ daher auch für „möglichst wenig Einfluss auf die Natur“.
Das nach seiner Vorsitzenden, der ehemaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland, auch „Brundtland-Kommission“ genannte Gremium gab mit dieser Dogmatik der symbiotischen Beziehung zwischen sozialistischen und ökologischen Ideologien eine stabile Architektur. Weidlich nutzte die Sozialistin Brundtland den ihr gewährten Freiraum hinsichtlich der Zusammensetzung des Ensembles aus und trommelte 22 ausschließlich dem linken politischen Spektrum angehörende Persönlichkeiten (darunter einige Umweltaktivisten) zusammen. Dem Bild des gesellschaftlichen Zwängen hilflos ausgelieferten Menschen mit der Abhängigkeit von der Umwelt einen weiteren Aspekt hinzuzufügen, verschaffte dem Sozialismus eine Renaissance in grüner Gewandung.
Doch falls die Hypothese stimmt, die polynesische Urbevölkerung von Rapa Nui hätte sich durch Raubbau, insbesondere durch eine mit Entwaldung und Bodenerosion einhergehende Intensivlandwirtschaft selbst vernichtet, war es Stillstand, der zum Untergang führte. Auch die isländischen Urwälder wurden nach ungefähr zeitgleicher Ankunft der ersten Siedler rasch gerodet und heute ist die Insel nahezu frei von Bäumen, was aber nie Probleme bereitete. Die Konzentration auf Weidewirtschaft und Fischerei in Verbindung mit der Einbindung in ein nordatlantisch/europäisches Handelsnetz bot ein gutes Auskommen und spülte ständig neue Optionen an die Küsten der nordischen Vulkaninsel.
Während man also in der Südsee höchst nachhaltig an Isolation und tradierten Wirtschaftsweisen festhielt, reagierten die Wikinger mit weltoffener, proaktiver Flexibilität. Und entfesselten so den Erfindungsgeist, der dauerhaft bestehenden Ansprüche wie Gesundheit, Ernährung, Mobilität oder Kommunikation mit einer immer größeren Vielfalt an Angeboten begegnet. Die dadurch entstehende Unklarheit, sowohl hinsichtlich der Mittel, über die unsere Erben dereinst verfügen, als auch hinsichtlich ihrer dann drängenden Wünsche, macht Nachhaltigkeit zu einem sinnlosen Ratgeber. Wer im Jetzt Weiden oder Felder benötigt, fälle halt die Wälder. Bäume sind ohnehin nicht mehr relevant, sobald Steinkohle für die Energieerzeugung, Ziegel für Gebäude und Bleche für Schiffe bereitstehen.
Ganz im Gegenteil verliert deren schon immer nur marginaler Beitrag durch zunehmend effektivere Maschinen und Verfahren jegliche noch verbliebene Relevanz. Und da uns weder die Atome ausgehen, auf deren zweckgerichteter Kombination alle Technik beruht, noch die Kreativität, die unsere Fertigkeiten zur Neuordnung der Materie stetig erweitert und verbessert, gibt es keine Grenzen des Wachstums. Mitnichten sind die dazu erforderlichen Ressourcen kostbare und knappe Geschenke der Natur. Sie werden vom Menschen durch die Anwendung von unbegrenzt verfügbarem Wissen geschaffen und unterliegen daher keinen prinzipiellen Beschränkungen.
Eingedenk dessen besteht das menschliche Erfolgsrezept seit jeher darin, die Gegenwart mit den verfügbaren Werkzeugen zu verbessern, ohne sich von fiktiven Problemen lähmen zu lassen, die deswegen in fünfzig oder hundert Jahren auftauchen könnten. Man räumt halt die auf dem jeweiligen Stand der Technik sicht- und handhabbaren Hindernisse aus dem Weg und verplempert die Zeit nicht mit der Sorge um noch nicht existente Nachfahren. So haben die mittelalterlichen Isländer ohne jede vorausschauende Rücksicht auf das Seelenheil heutiger Tierfreunde ihre Walfangmethoden immer weiter verfeinert.
Dagegen richtet sich die Furcht, eine primär auf ihr aktuelles Wohlergehen bedachte Generation könne ungewollt katastrophale Folgen auslösen. Begleitet von der Sorge vor den potentiell ebenso zerstörerischen Nebenwirkungen denkbarer Lösungen. Der rational bestehende Widerspruch zwischen der Angst vor Klimawandel oder Artensterben und der gleichzeitigen Ablehnung von Kernenergie oder Gentechnik löst sich in Wohlgefallen auf, wenn die Nachhaltigkeitsdogmatik das Denken regiert. Was für ein wirkmächtiger mentaler Parasit, der die Emotionen, von denen er sich nährt, nicht nur rechtfertigt, sondern auch noch selbst schürt und verstärkt! Die gegenwärtig nirgends so stark wie in Deutschland ausgeprägte Marginalisierung des Wissens durch den Glauben in Politik und Medien beruht auf dieser perfiden Selbstbezüglichkeit.
Die Rigorosität der Nachhaltigkeit gebietet die Abschaffung des Individualverkehrs und der Fliegerei, während an Flugtaxis und Raketengleitern gebaut wird. Und betroffen sind längst nicht nur alle Hoch- und Spitzentechnologien, bei denen Deutschland bereits einen Rückstand von zehn Jahren oder mehr aufgebaut hat. Nachhaltigkeit paralysiert die Innovationsfähigkeit einer Volkswirtschaft in allen Branchen und Sektoren, führt dadurch zu Wohlstandsverlusten, sozialen Spannungen und Verteilungskämpfen. Noch kann man das durch den Rückgriff auf die im letzten Jahrhundert erarbeitete Substanz in einem gewissen Umfang abfangen. Nachhaltigkeit ist nicht zuletzt deswegen hierzulande so populär, weil man sie sich (noch) leisten kann.
Für die Rapa Nui galt das nicht. Ihnen wäre im Rahmen einer „nachhaltigen Entwicklung“ kein Ausweg außer der Einstellung der Landwirtschaft und der Rückkehr zu einer steinzeitlichen Jäger- und Sammlerkultur mit strikter Regulierung der Bevölkerungsgröße geblieben. Materielle, intellektuelle und gegebenenfalls auch territoriale Expansion als Alternativen kamen ihnen nicht in den Sinn. Die Isländer hingegen haben die Walpopulationen weit genug reduziert, um heute von diesen auf andere Weise zu profitieren. Wale sind selten, die Begegnung mit ihnen also werthaltig genug, um zahlende, mit Kameras statt Harpunen ausgerüstete Touristen anzulocken. Was Nachhaltigkeit als Raubbau verdammt, nutzen die Klügeren für neue Geschäftsmodelle. Island bietet seinen Einwohnern heute einen Lebensstandard wie kaum ein anderes Land und teilt sich mit Hongkong den vierten Platz im „Human Development Index“ der UN. Und forstet übrigens wieder auf, weil man es kann und möchte.
Deutschland hingegen ist einem Hirngespinst erlegen. Wie einst die Osterinsulaner alle verbliebene Kraft in die Errichtung steinerner Statuen legten, um Götter, Ahnen oder sonst wen um Hilfe zu bitten, baut man hierzulande Windmühlen zur Anrufung der Nachhaltigkeit. Die Zukunft aber gewinnt nur, wer den Götzen entsagt und wieder wissen will, statt nur zu glauben. Sonst bleibt nur der Untergang.