Tichys Einblick
Expansion ins All

Die orbitale Ökonomie

Bislang fehlte der bemannten Raumfahrt ein tragfähiges Geschäftsmodell. Dies ändert sich gerade. Zum Weltraumtourismus gesellt sich die Option, hochwertige Güter für die Erde in der Mikrogravitation einer Umlaufbahn zu fertigen. Es entsteht ein neuer Arbeits- und Lebensraum mit unabsehbaren gesellschaftlichen und kulturellen Folgen.

Kennedy Space Center, Florida: Raketenstart am 13.10. Eine Rakete vom Typ Falcon Heavy (SpaceX) hebt eine Sonde der NASA in die Umlaufbahn.

IMAGO / USA TODAY Network

Noch beruht jedes profitable Geschäftsmodell in der kommerziellen Raumfahrt auf der Gewinnung und Verteilung von Informationen. Ob Rundfunk, Telefonie oder Internet, ob Erdbeobachtung oder hochpräzise Wettervorhersage, man muss Astra, Iridium, Globalstar, Orbcomm, Planetlabs, Starlink und all die anderen bereits etablierten oder geplanten Konstellationen eher als Bestandteile einer höchst irdischen Digitalisierung denn als unternehmerische Nutzung des Weltraums auffassen.

Die aber im Windschatten dieses wachsenden Marktes ebenfalls Fahrt aufnimmt, beschleunigt nicht zuletzt durch deutlich sinkende Transportkosten. So brachte am 13. Juni 2023 SpaceX mit einer Falcon-9-Rakete einen von Rocket Labs gebauten Satelliten in eine niedrige Erdumlaufbahn, dessen Nutzlast aus einer kleinen Kapsel des ebenfalls US-amerikanischen Startups Varda Space besteht. Und diese produziert nicht nur Daten, sondern vor allem Moleküle. Eine hochautomatisierte, vom Boden aus überwachte Mini-Fabrik, die mit ihrer wertvollen Fracht wieder zur Erde zurückkehrt, sobald die zuständigen Aufsichtsbehörden dies genehmigen.

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Ritonavir hat sie dann an Bord. Eine 1996 von dem Pharmakonzern Abbott Laboratories als Aids-Medikament auf den Markt gebrachte chemische Verbindung mit der Summenformel C37H48N6O5S2. Deren Produktion und Vertrieb allerdings nach nur zwei Jahren vorübergehend wieder eingestellt werden musste, obwohl die Arznei bis dahin nachweislich mehreren zehntausend Erkrankten das Leben gerettet hatte. Denn wie man damals entdeckte, kristallisiert Ritonavir in mindestens zwei unterschiedlichen Formen, die sich hinsichtlich ihrer Potenz deutlich unterscheiden. Und ausgerechnet die zunächst übersehene zweite, nahezu unwirksame Struktur ist die energetisch günstigere und daher chemisch bevorzugte Variante. Schon wenige Moleküle von Form II genügen, um eine Dosis nutzlos zu machen. Mehr noch ließ sich in sämtlichen Labors, die mit der Form II arbeiteten, die Form I nicht mehr herstellen.

Spätere Untersuchungen fanden sogar noch drei weitere Formen, was im Grunde keine Überraschung darstellt. Ist doch die strukturbasierte Gestaltung und Analyse von Pharmazeutika unter irdischen Bedingungen ein höchst diffiziler Prozess. Die Gravitation und von ihr ausgelöste Prozesse wie Konvektion oder Sedimentation lenken chemische Reaktionen in flüssigen Medien häufig in eine bestimmte Richtung. Sie nehmen quasi den Molekülen die Freiheit, sich in allen energetisch möglichen dreidimensionalen Anordnungen zu manifestieren und filtern dadurch manch ein bezogen auf die angestrebte Anwendung effektiveres Resultat indirekt aus. Mitunter entgeht die optimale Form einer Analyse, weil sie in einem Experiment in zu geringer Konzentration entsteht, mitunter übersieht man aus genau dem gleichen Grund eine potentiell schädliche Kontamination.

Mit der Varda-Mission ist nun die Hoffnung verbunden, durch die Umgehung dieser Schwerkraft-Limitierung noch bessere Formen von Ritonavir mit noch höherer Wirksamkeit zu entdecken. Oder zumindest Hinweise für eine Verbesserung erdgebundener Produktionsverfahren zu erhalten. Zwar findet Forschung dieser Art schon seit vielen Jahren auf der Internationalen Raumstation ISS statt, Varda aber agiert rein kommerziell. Das Vorhaben ist privat finanziert und nimmt keine staatlichen Infrastrukturen in Anspruch. Erstmals wird mit der Medikamentenentwicklung im All tatsächlich Geld verdient statt nur investiert. Ein Signal für das, was noch kommt. Und zwar schon bald, mit Planungszeiträumen von wenigen Jahren, nicht vielen Jahrzehnten. Eine stetig wachsende Zahl an Projekten vermittelt die in der Branche herrschende Aufbruchsstimmung. Manche werden scheitern, andere sich verzögern und vielleicht weniger ambitioniert umgesetzt, als zunächst geplant. Aber eine neue Phase der menschlichen Expansion beginnt immer mit kleinen Schritten.

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Neben Varda planen auch The Exploration Company (Nyx, Erstflug 2024), Space Tango (ST-42, 2025) und Redwire Roboterfabriken für die Erdumlaufbahn. Neben der Pharmazeutik sind diese wie alle anderen Vorhaben auf Biotechnologien und Materialentwicklungen ausgerichtet. Die jahrelange Forschung auf der ISS zahlt sich nun aus, die Mikrogravitation und der einfache Zugang zu einem Hochvakuum haben ihr Potential belegt. Beschichtungen, optische Systeme und biologische Gewebe sind Applikationen, in denen Produkte aus dem All ihre irdischen Pendants qualitativ übertreffen. Neben Arzneimitteln könnten Glasfaserkabel, Halbleiterkristalle und Ersatzorgane die ersten in größeren Mengen produzierten Güter aus dem All darstellen.

Was auch den Bedarf für menschliche Präsenz vor Ort erhöht. Orbital Reef nennt Blue Origin seine im Verbund mit Sierra Nevada Space, Boeing, Amazon, Mitsubishi und Redwire zu errichtende Raumstation, in der ab 2027 zehn Astronauten tätig sein sollen. Voyager Space, Nanoracks, Airbus und die Hilton Hotelkette möchten ihr etwas kleiner dimensioniertes Starlab für eine ständige Besatzung von vier Personen gerne noch früher starten. Es basiert in Teilen auf dem von Airbus projektierten Modul „Loop“, das mit acht Metern Durchmesser und drei Decks bislang ungekannten Raum und Komfort bieten soll. Integraler Bestandteil ist auch eine große Zentrifuge zur Erzeugung künstlicher Schwerkraft, um die negativen Auswirkungen langer Schwerelosigkeit auf die Besatzung zu reduzieren.

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Axiom Space will zunächst die Internationale Raumstation durch eigene Module ergänzen, um diese schließlich abzukoppeln und in Eigenregie weiterzubetreiben. Das erste befindet sich bereits im Bau und soll 2026 zum Einsatz kommen. Vast Space schließlich plant schon für den August 2025 den Start von Haven-1, einer Raumstation für vier Personen, die durch Eigenrotation ebenfalls artifizielle Gravitation nach Wunsch erzeugen kann. China wird Tiangong um drei weitere Module ergänzen und Russland will 2027 das erste von sieben Modulen seiner Orbital Service Station in der Erdumlaufbahn installieren. In mindestens sechs Raumstationen (eigentlich sogar in sieben, wenn man das Lunar Gateway hinzurechnet) entstehen bis 2030 also mehr als zwanzig Dauerarbeitsplätze für die kommerzielle Forschung und Entwicklung und für die Steuerung, Überwachung und Wartung hochautomatisierter Fertigungsanlagen. Was, bezieht man den Weltraumtourismus mit ein, nicht nur einen intensiveren Pendelverkehr zwischen Erde und Weltraum induziert, sondern auch einen direkten Transport von Waren und Personen zwischen außerirdischen Destinationen ohne den energiefressenden Umweg über die Planetenoberfläche, wünschenswert erscheinen lässt.

Raumschiffe wie Dragon (SpaceX, operabel), Orion (Lockheed Martin/Airbus, operabel), Starliner (Boeing, 2024), Sojus (Russland, operabel) und dessen geplanter Nachfolger Orel (2025), Shenzhou (China, operabel) und dessen für 2027 geplanter Nachfolger, Gaganyaan (Indien, 2024), Dream Chaser (Sierra Nevada Space, 2025) und Starship (SpaceX, 2025) könnten eine solche intraorbitale Logistik tragen. Vor allem, wenn die ersten Tankerversionen des Starship im Orbit platziert werden. Ein Zukunftsmarkt, an dem auch der deutsche Raketenbauer Rocket Factory Augsburg mit seiner projektierten Argo-Kapsel teilhaben will.

Und wenn man schon im All für die Erde produziert, kann man auch gleich im All für das All fertigen. Was immer vor Ort entsteht, muss schließlich nicht auf die Erdschwerkraft und die Belastungen eines Raketenstarts ausgelegt sein. So konstruiert ein von Redwire geführtes Konsortium im Auftrag der NASA eine Archinaut genannte „On-Orbit Servicing, Assembly, and Manufacturing“-Einheit (OSAM), die Gitterstrukturen, Antennen, Solarpaneele und weitere Komponenten additiv in der Umlaufbahn herstellt. Tethers Unlimited arbeitet an einem „Makersat“ zur Generierung von Carbonfasern und aus solchen aufgebauten Strukturen. Das in München ansässige Unternehmen DCubeD setzt auf Photopolymere, das sind unter UV-Licht aushärtende Harze, für die Bauteilherstellung und will ein entsprechendes System bereits 2024 im Orbit demonstrieren. Airbus schließlich entwickelt mit ISMA („In Space Manufacturing and Assembly“) gleich eine Roboterfabrik für die Fertigung ganzer Satelliten im All.

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Die Rohstoffe und Halbzeuge für solche Anlagen müssen nicht in vollem Umfang von der Erde stammen. Ausgebrannte Raketenstufen, ausgediente Satelliten und aufgegebene Raumstationen sind reichhaltige Quellen für Metalle und Kunststoffe aller Art, für Treibstoffreste, für optische und elektronische Komponenten. Weltraumschrott ist werthaltig. Eine Wiederverwertungsoption erprobt Tethers Unlimited mit einem so getauften Refabrikator auf der ISS, der aus Plastikmüll neue Filamente für den Einsatz in 3D-Druckern gewinnt.

Statt regelmäßig mit hohem Energieaufwand durch den Gravitationstrichter der Erde zu fliegen, lassen sich Rohstoffe auch von kleinen, erdnahen Asteroiden herbeischaffen. Mehr als 700 solcher Objekte wurden bereits identifiziert und untersucht, ihr Materialwert soll 100 Billionen US-Dollar übersteigen. Neben vielen anderen Firmen wollen Origin Space (China), TransAstra, Moon Express, Offworld (alle USA) und iSpace (USA/Japan) diesen Markt erschließen. Die einst mit großem Tamtam verkündeten Pläne von Planetary Resources und Deep Space Industries sind eben nicht mit diesen Unternehmen untergegangen. Die New-Space-Branche ist jung, nervös und volatil. Ein stetiger Strom neuer Entrepreneure mit ehrgeizigen Zielen bestückt einerseits die Galerie gescheiterter Utopien mit ständig neuen Exponaten, befeuert andererseits aber auch Zusammenschlüsse, Akquisitionen, Umfirmierungen und Neugründungen. Nicht Vertragswerke und Gewerbeanmeldungen sind die Erhaltungsgrößen in solch stürmischen Umgebungen. Nicht Organisationsformen und auch nicht wechselnde Logos auf Visitenkarten treiben Innovationen, sondern Menschen mit ihren Visionen und Zielen.

Neben auf der Erde seltenen Metallen wie Osmium, Gold, Platin und Rhodium bieten Asteroiden mit Wasser, Kohlenstoff, Stickstoff und Phosphor auch die Quellen für Treibstoffe und Düngemittel. Am „Space Farming“, also an der hydroponischen Pflanzenzucht im vertikalen Anbau und an der Generierung von synthetischem Fleisch aus dem Bioreaktor mit dem sich anschließenden 3D-Druck von Steaks, Schnitzeln und Burgern, arbeiten staatliche Raumfahrtagenturen und Unternehmen wie Redwire (USA), Starlab Oasis (Abu Dhabi) und Space Lab Technologies (USA). In Verbindung mit fortgeschrittenen Recycling-Systemen entsteht so das Fundament einer orbitalen Ökonomie, die weitgehende Autarkie erlangt.

Geschlossene Wertschöpfungsketten im All sind in Reichweite und werden irgendwann Menschen dazu bewegen, nicht mehr nur Tage, Wochen oder Monate in der Umlaufbahn zu verbringen, sondern gleich ihr ganzes Leben. Fern von irdischen Bürokraten und grünen Ideologien mit ihren freiheitseinschränkenden Regeln, Normen und Verboten mausert sich der Weltraum langsam aber sicher zu einem Sehnsuchtsort für Pioniere und Freigeister wie einst die Amerikas. Der Tag wird kommen, an dem sich die erste Raumstation zu einer neuen Nation erklärt, zu einem neuen Staat mit neuen Regeln.


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