Tichys Einblick
Wissenschaft ist keine Politik

Die Krise der fünften Gewalt

Wo Neutralität und Objektivität gefordert sind, stellen sich viele Forscher lieber in den Dienst von Ideologen aller Farben. Die Strukturen der wissenschaftlichen Politikberatung in Deutschland belohnen diese Anbiederung an die Mächtigen – zum Schaden von Politik und Wissenschaft.

IMAGO / Christian Ditsch

Am zweiten Juli 2021 spricht Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet im Landtag Nordrhein-Westfalens die folgenden Worte: „Ich stimme selten, eigentlich nie, der AfD zu. Sie haben heute einen wahren Satz gesagt: Immer wenn jemand ankommt und sagt „die Wissenschaft sagt“, ist man klug beraten, zu hinterfragen, was dieser gerade im Schilde führt …“

Überraschend deutlich moniert hier ein Ministerpräsident den kläglichen Zustand der wissenschaftlichen Politikberatung in Deutschland. Denn sogar bei naturwissenschaftlichen Themen kann man längst nicht mehr auf Objektivität und weltanschauliche Neutralität in Stellungnahmen von Forschern vertrauen. Und das gilt für alle mit solchen befassten Gremien und Beiräte, für alle solche gefragt oder ungefragt erstellenden Vereine und Verbände, für alle Äußerungen Gelehrter in Talkshows oder Interviews. Wenn aber ein Spitzenpolitiker, der danach strebt, die nächste Bundesregierung anzuführen, diesen Umstand erkennt und als wahr akzeptiert, besteht zumindest Hoffnung auf Besserung. Was angesichts der Bedeutung, die wissenschaftlichen Beiträgen zu gesellschaftlichen Debatten seit geraumer Zeit zukommt, keine ganz schlechte Nachricht ist.

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Nahezu alle formal etablierten wissenschaftlichen Beiräte setzen sich überwiegend aus Angestellten staatlich finanzierter Hochschul- oder Forschungseinrichtungen zusammen. Dies gilt für 22 der 24 Mitglieder des Deutschen Ethikrates, für sechs von sechs der Expertenkommission „Forschung und Innovation (EFI)“, für fünf von fünf des dem Umweltbundesamt UBA zugeordneten „Expertenrates für Klimafragen“, für sieben von sieben des „Sachverständigenrates für Umweltfragen SRU“ und neun von neun des „Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen WBGU“. Selbst in den eher ökonomisch orientierten Gremien verfügen die Wissenschaftler des öffentlichen Dienstes jeweils über eine Mehrheit. So besetzen diese im Bioökonomierat zwölf von zwanzig, in der Datenethikkommission zehn von sechzehn und im Digitalrat fünf von neun Stühlen. Das dem Bundestag zuarbeitende „Büro für Technikfolgenabschätzung“ ist gleich ganz mit einem Hochschulinstitut identisch.

Ein Gegengewicht aus von Steuermitteln unabhängigen Denkfabriken, wie es im angelsächsischen Raum etabliert ist, fehlt in Deutschland fast völlig. Hierzulande finden sich kaum Beispiele für Einrichtungen, in denen freie oder Unternehmen angehörende Forscher, Techniker und Experten über definierte Prozesse der Politik zuarbeiten können. Allenfalls billigt man diese Option noch Umweltaktivisten zu, die gerne in ad-hoc-Kommissionen mit begrenzter Laufzeit zu spezifischen Fragen integriert werden und deren Finanzierung meist über ein kompliziertes Geflecht von Quellen erfolgt, die sich aus Spendengeldern, Erträgen diverser Stiftungen sowie öffentlichen Fördermitteln und öffentlichen Auftragshonoraren speisen.

Es beraten also die staatlich alimentierten jene, von denen sie alimentiert werden. Eine Abhängigkeit, die erstere nicht gerade dazu motiviert, die Wünsche und Vorgaben letzterer mit der doch eigentlich gebotenen Skepsis zu betrachten. Sondern diese vielmehr zum eigenen Vorteil in geeignete Bahnen zu lenken. Ein Professor für Sonnenenergie wird halt ebenso dazu neigen, die Bedeutung der Photovoltaik für die Energieversorgung zu preisen, wie ein Zoologe die Relevanz des Artenschutzes hochhält oder sich ein Klimafolgenforscher alle möglichen Klimawandelfolgen ausdenkt – und seien diese noch so phantasievoll konstruiert. Den meist fachfremden Politikern vermittelt man auf diesem Weg ein Bild insbesondere der Naturwissenschaften, das deren Alltag widerspricht, in dem die Widerlegung von Thesen eine Hauptrolle spielt.

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Wissenschaft und Politik sind eben nicht zwei Seiten derselben Medaille, sondern miteinander völlig unverträgliche Antagonisten. Gerade die Naturwissenschaften müssen sich von Werten und Interessen völlig frei machen, um zu unvoreingenommenen Analysen fähig zu sein, und mindestens für die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gilt dies gleichermaßen. Politik jedoch ist die Kunst des wertebasierten Ausgleichs unterschiedlicher Interessen. Wo sie wissenschaftliche Erkenntnisse als Begründung für Alternativlosigkeit heranzieht, setzt sie diese daher automatisch mit ethisch/moralischen Anschauungen gleich. Und erklärt dadurch den Stand der Erkenntnis implizit zu einem sakrosankten Dogma. So werden dann „Klimaschutz“ und „Kohleausstieg“, „Elektromobilität“ und „Biolandbau“, „Tierschutz“ und „Impfung“ schleichend zu Werten erhoben und etablierten Imperativen wie „Freiheit“ oder „Gleichberechtigung“ mindestens gleichgestellt, wenn nicht gar übergeordnet. Und Akademiker, die den geäußerten „politischen Willen“ als Vorgabe empfinden, der zu folgen nicht nur den eigenen Job sichert, sondern auch für weiter sprudelnde Zuwendungen aus Staatshaushalten und Drittmitteln für ihre Fachgebiete sorgen, leisten dieser im Grunde undemokratischen, weil Entscheidungsspielräume einengenden Entwicklung Vorschub.

Angesichts allzu häufig ideologisch induzierter und mit der Primärfunktion der Wähleransprache formulierter Themensetzungen halten diese Form der Eilfertigkeit nur jene lange durch, deren Gier nach Anerkennung und Wahrnehmung das Streben nach neuen Erkenntnissen übersteigt und deren persönliche politische Orientierung zur gesetzten Agenda passt. Daher sieht man in den Medien immer dieselben Gesichter immer dieselben Auffassungen äußern. Deren offenkundiger Erfolg wiederum Nachahmer gleicher Einstellung anzieht und motiviert. So ist die wissenschaftliche Politikberatung in Deutschland nach und nach zu einem Ort für Aktivisten mit akademischen Titeln verkommen, an dem sich neugierige, kreative und querdenkende Geister nicht mehr wohlfühlen. Der Politik steht durch diese Entwicklung mittlerweile eine willfährige Wissenschaftsprominenz zur Verfügung, die einen wirksamen Schutzschild gegen abweichende Ansichten bildet und auf die sich Verantwortlichkeit leicht übertragen lässt. Was die Forschung nicht nur spürbarem Unbehagen, ja steigendem Misstrauen in der Bevölkerung aussetzt, sondern auch zu einer Abwertung schon jener Disziplinen beiträgt, die aus Sicht der Regierung keine Argumente für als alternativlos deklarierte Ziele liefern. Von den Bereichen ganz zu schweigen, aus denen neues Wissen hervorgehen könnte, das politische Irrtümer als solche entlarvt.

Ein Land, das Bio- und Gentechnologie, die Kernphysik, die Nanowissenschaften, manch ingenieurwissenschaftliche Meisterleistung etwa im Bergbau oder in der Automobiltechnik und sogar viele mit der fortschreitenden Digitalisierung verbundene Optionen mit Skepsis betrachtet oder gar ablehnt und darin tagein tagaus von seinen eigenen Forschern unter politischem und medialem Beifall bestärkt wird, kann die Zukunft nicht gewinnen. Ein solches Land wird weder zum Mond fliegen, noch seine Energieversorgung auf Wasserstoff umstellen. Es wird in so vielen Bereichen den Anschluss an nicht aufzuhaltende Fortschritte verlieren, dass es am Ende nicht einmal mehr wettbewerbsfähige Windräder oder Solarzellen produzieren kann. Auf dem Trümmerhaufen der wissenschaftlichen Politikberatung in Deutschland vermag selbst die wohlmeinendste Regierung lediglich einsturzgefährdete Ruinen wie Energie-, Verkehrs- und Agrarwenden zu errichten, in denen Menschen statt besser zu leben nur mehr dahinvegetieren.

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Um dies zu ändern, muss die Politik wieder jenen Forschern zuhören, die ihr das bieten, was Wissenschaft eigentlich vermag. Nämlich die Grenzen des überhaupt Machbaren aufzuzeigen und Machtlosigkeit angesichts physikalischer, biologischer und ökonomischer Prinzipien zu verdeutlichen, gegen die zu agieren zwecklos ist. Und ihr andererseits die unvermeidbaren Kollateralschäden zu verdeutlichen, die jeder Eingriff in bestehende Abläufe mit sich bringt.

Es braucht ja kein langjähriges Studium, um zu begreifen, dass ein sich allzu oft unbemerkt in der Bevölkerung ausbreitendes Virus nicht aufzuhalten oder gar auszurotten ist. Angesichts aktuell wieder gestiegener Inzidenzen kommt man zudem nicht umhin, die Unwirksamkeit aller bislang ergriffenen Maßnahmen, von Geschäftsschließungen über Veranstaltungsverbote bis hin zu Maskenpflichten, mindestens im Nachhinein einzuräumen und diese folgerichtig sofort zu beenden. Man muss auch kein Klimaforscher sein, um die Idiotie zu erkennen, die darin besteht, von allen denkbaren Wegen zur Emissionsminderung ausgerechnet die wirksamsten und unschädlichsten rundweg abzulehnen, mithin den Ausbau der Kernenergie, die Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid und dessen Rückholung aus der Atmosphäre. Auch genügt einfache Grundschulmathematik, um die Irrelevanz aller deutschen Klimaschutzpläne im globalen Maßstab zu erkennen. Ebenso simpel ist die Kalkulation, die es als schlicht unmöglich belegt, den Energiehunger eines dichtbesiedelten Industrielandes allein durch das Ernten hiesiger volatiler Umgebungsenergieflüsse zu stillen.

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Schon diese wenigen Beispiele verdeutlichen die Notwendigkeit einer Beratung durch Wissenschaftler, die sich nicht als Diener und Wasserträger der Mächtigen verstehen, sondern deren Ideen und Vorstellungen kritisch und skeptisch hinterfragen. Wissenschaft kann und sollte Risiken aufzeigen. Dies gilt jedoch für den Klimawandel ebenso, wie für die Ideen zu dessen Eindämmung, dies gilt für eine Pandemie ebenso, wie für die Konzepte zu deren Bekämpfung. Wissenschaft kann und sollte auf diesem Weg einen ergebnisoffenen Diskurs ermöglichen, an dessen Ende jeder selbst zu entscheiden vermag, welche Risiken er einzugehen bereit ist und welche nicht. Wissenschaft kann und sollte Optionen aufzeigen, ob Impfung oder Medikament, ob Wasserstoffnutzung oder Geothermie, ob Batterie- oder Brennstoffzellenfahrzeuge. Aber deren Erzwingung einseitig argumentativ unterfüttern kann und darf sie nicht. Wissenschaft kann und sollte aufklären. Ihren Adressaten vom Bürger bis zum Kanzler zur Mündigkeit zu verhelfen, mithin zum Gebrauch des eigenen Verstandes zu ertüchtigen, ist schon immer ihre primäre gesellschaftliche Funktion. Um dieser weiterhin nachzukommen, braucht es Wissenschaftler, die sich als kreative Komponisten verstehen und gerade nicht solche, die sich die Position des lenkenden Dirigenten anmaßen.

Die Komplexität der Fragen, die sich in einer technisch fortgeschrittenen, einerseits hoch vernetzten aber andererseits auch stark fragmentierten Gesellschaft stellen, drängt die Forschung zunehmend die Rolle einer fünften Gewalt. Momentan aber gleicht der Zustand der organisierten wissenschaftlichen Politikberatung in Deutschland einer glücklicherweise fiktiven Medienwelt, in der es nur öffentlich-rechtliche, sich der Erziehung statt der Bildung widmende Rundfunkanstalten gibt und keinerlei private, staatsfern und autonom agierende Anbieter. Fehlender Wettbewerb jedoch mindert immer die Qualität eines Angebots. Auf diesen Umstand scheint nun endlich auch die Politik aufmerksam zu werden, wie Armin Laschets anfangs zitierte Äußerung belegt.Man darf gespannt sein, ob er sich dieser Problematikauch als Kanzler widmet und die notwendige Korrektur der Strukturen angeht, so er das Amt denn erringt.

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