Ein Weizenkorn – das Korn, das die Welt in Gang hält. Präzisionsmaschinen haben den Sämann abgelöst und drillen die Körner gleich mäßig in den Boden. Diese Wunder der Technik haben die Ernteergebnisse aus dem Vorjahr im Steuercomputer, um die Korndichte den Bodenverhältnissen angepasst dosieren zu können. Precision Farming heißt das. In bis zu 40 Reihen nebeneinander ziehen die größten Einzelkornsämaschinen eine Furche, legen Saatkörner hinein und decken die Furche wieder mit Erde zu.
Mit zehn Kilometern pro Stunde donnern die 18 Meter breiten Kolosse über die Äcker und bereiten das ideale Saatbett. Sie berücksichtigen sogar unterschiedliche Verhältnisse auf einem Ackerschlag – in der einen Ecke eher feucht, in der anderen trocken und sandig. Jedes Saatkorn soll später ausreichend Wasser und Nährstoffe aus dem Boden bekommen. Zwischen 250 und 300 keimende Körner sollen pro Quadratmeter in den Boden gelegt werden – je nach Qualität der Standorte.
Die Samen sind so etwas wie Lebewesen in Ruhestellung. Ihre Stoffwechselaktivität ist auf ein Minimum beschränkt. Erst wenn Wasser aufgenommen wird, wacht der Samen auf, die Keimruhe wird beendet. Bereits 1865 hat der Botaniker Julius Sachs gezeigt, dass neben dem Licht auch die Temperatur eine entscheidende Rolle spielt, um die Keimruhe zu stoppen und den Samen gewissermaßen zu aktivieren.
Ausreichende Wasserversorgung und geeignete Temperatur, das sind wichtige anregende Faktoren. Den entscheidenden allerdings liefert die Sonne. Bereits eine sehr kurze Bestrahlung reicht aus, um die Keimung anzuregen. Bei einer ganzen Reihe von Pflanzenarten ist übrigens eine Brandkatastrophe vonnöten, um den Prozess in Gang zu setzen.
Erstaunlich hoch kann der mechanische Druck werden, wenn Samen Wasser aufnehmen, denn sie haben eine bemerkenswerte Saugkraft. Trockene Erbsensamen können sogar einen Glasbehälter zerspringen lassen. In früheren Jahrhunderten stachen Schiffe mit trockenen Getreidesorten in See. Geriet
ein Schiff in einen heftigen Sturm, so konnte es geschehen, dass Wasser in die Lagerräume mit dem Getreide ein drang. Das Getreide quoll auf, und dies manchmal so stark, dass sogar der hölzerne Schiffskörper zerbrach und das Schiff mit Mann und Maus absoff.
Ohne Quelldruck kein Wachstum
Die Bedeutung des hohen Quelldrucks ist offensichtlich: Die Samen in der Erde müssen große mechanische Widerstände überwinden, um die Bodenpartikel auseinanderzuschieben und Raum für ihr Wachstum zu schaffen. Die nächste Phase tritt ein, wenn die Quellung beendet ist und das Wachstum beginnt. Der Mehlkörper ist der mit Stärke gut gefüllte Energietank der künftigen Pflanze – das, was wir als Mehl benutzen. Doch die Stärke im Korn muss erst in Zucker umgewandelt werden, diesen Prozess setzt ein Biokatalysator in Gang.
Die Zellen nehmen immer mehr Wasser auf, das Volumen wird erhöht, die Zellen strecken sich – in Längsrichtung stärker als in Querrichtung. So wachsen die Stängel und werden zu mechanischen Wunderwerken: Sie sind elastisch und lassen sich biegen. Gleichwohl bauen sie Sekundärwände an, um die Konstruktion mechanisch zu stabilisieren. Denn oben an der Spitze bildet der Keimling Ähren, wird schwerer und droht umzukippen.
Welche Kräfte wachsende Wurzeln ausüben können, lässt sich angesichts von Durchbrüchen von Wurzelwerk durch zum Beispiel dicke Asphaltdecken ermessen. Es handelt sich um außergewöhnlich hohe hydrostatische Drücke in den Zellen, die enorme Widerstände überwinden können. Doch die exakten physikalischen Prozesse derartiger pflanzlicher Kraftakte sind noch nicht in allen Details geklärt.
In den Wurzelspitzen sitzen Sensoren für ein ganzes Arsenal an Größen wie mechanischer Druck, Feuchtigkeit und sogar für die Schwerkraft. So fallen in der sogenannten Wurzelhaube schwere Partikel (Statolithen) aus Stärke oder
Kalk immer nach unten und lösen einen mechanischen Reiz aus. So wissen die Wurzeln, wo oben und unten ist, wohin sie wachsen müssen. Die Wurzelspitzen leisten Schwerarbeit, wenn sie das Erdreich durchbohren. Sie ölen daher ihre Spitze mit einem Schleim und ersetzen die abgenutzten Zellen innerhalb weniger Tage. Sie ändern erstaunlicherweise ihre Wuchsrichtung bereits, bevor sie auf ein Hindernis stoßen. Sie prallen also nicht auf ein Hindernis, sondern umgehen es frühzeitig.
Wurzelspitze das Gehirn der Pflanze
Die Wurzelspitzen bezeichnete bereits Charles Darwin als „Gehirn“ der Pflanzen. Und der italienische Biologe Stefano Mancuso weiß: „Automatische Reiz-Reaktions-Schemata können den widersprüchlichen Anforderungen, die an die Wurzelspitze gestellt werden, nicht gerecht werden. Doch jede Wurzelspitze allein ist schon ein Datenverarbeitungszentrum und arbeitet dazu nicht isoliert, sondern in einem Netz aus Millionen anderer Wurzelspitzen, die zur Community des Wurzelwerks gehören.“ Offen ist allerdings, wie die Wurzelspitzen zusammenarbeiten.
Weizen ist, wie der Evolutionsbiologe Ulrich Kutschera betont, ein „genetisches Monster aus der Steinzeitära“, das in der freien Natur nicht entstanden wäre und ohne die Hilfe des Menschen im Freiland auch nicht überlebensfähig wäre. Dies gilt insbesondere für die durch klassische Züchtung generierten Hochertragssorten der 1960er-Jahre.
Fatal wird sich allerdings die neue Düngeverordnung auswirken. Rund 15 Prozent des in Deutschland verbrauchten Weizens werden heute importiert. Diese Menge dürfte sich erhöhen, weil die Düngemengen drastisch reduziert werden müssen. Das lässt die Erträge sinken. Weizen droht knapp zu werden.
Zurück zur reinen, ursprünglichen Natur des Weizenkorns? Nein, wir könnten die Weltbevölkerung allein mit Wildgewächsen nicht ernähren. Fachleute gehen davon aus, dass mit Einsatz der grünen Gentechnik sogar 15 Milliarden Menschen auf der Welt satt würden. Als Folge moderner Technik stehen heute also so vielen Menschen wie noch nie saubere, gesundheitlich unbedenkliche und preiswerte Lebensmittel zur Verfügung. So hängen Lebensmittelreichtum oder Hunger auf der Welt von dem kleinen Wunderwerk Weizenkorn ab.