Tichys Einblick
Allensbach-Umfrage als Ausgangspunkt

Leben die Deutschen in einer „Schein-Demokratie“? 31 Prozent sagen: Ja

TE-Autoren wollen in lockerer Folge Beiträge verfassen, die sich auf jeweils konkrete Demokratiemängel beziehen und Lösungsansätze zur Diskussion stellen. Den Aufschlag macht Tomas Spahn.

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Muss einen das verwundern – oder sollte dieses Ergebnis nicht auf der Hand liegen? Bei einer Umfrage des Allensbach-Instituts im Auftrag des öffentlich-rechtlichen Südwestrundfunks (SWR) meinte fast ein Drittel der Befragten: Deutschland ist eine „Schein-Demokratie“, in der der Bürger nichts zu sagen hat. Dabei gab es gewisse Unterschiede zwischen den Alt-Bundesrepublikanern, die „nur“ zu 28 Prozent diese Auffassung vertreten, und den Beitrittsdeutschen der ehemaligen DDR, von denen 45 Prozent der Meinung sind, in einer „Schein-Demokratie“ zu leben. Die daraus logisch folgende Konsequenz, dass das demokratische System in Deutschland grundlegend verändert werden müsse, teilen 28 Prozent.

Eine nur scheinbar dramatische Entwicklung

Scheinbar offenbart dieses Umfrageergebnis eine dramatische Entwicklung: Fast ein Drittel der Bürger haben sich demnach vom aktuell praktizierten, politischen System der Bundesrepublik abgewandt. Eine Überraschung allerdings ist es nicht. Regelmäßig verweigern bei Wahlen mehr als 30 Prozent der Wahlberechtigten die Teilnahme.
Bereits im Frühjahr 2013 stellte die FoGEP in einer Analyse zur Parteienentwicklung deshalb fest, dass sich in der Bundesrepublik ein kritischer Sockel von Bürgern entwickelt, der sich überwiegend aus bürgerlich-konservativen Auffassungen speise, während sich auf der sogenannten linken Seite des politischen Spektrums keine relevante Gruppe bilde, die links von der SED/Die Linke angesiedelt ist.

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Die im April 2013 auf Grundlage von Analysen aus in der zweiten Hälfte des Jahres 2012 erstellte Untersuchung – zu einem Zeitpunkt, als die Lucke-AfD zwar unmittelbar vor der Gründung stand, jedoch noch keine Medienrelevanz entwickelt hatte – kam zu dem Schluss, dass das bürgerlich-liberale Lager die strukturelle Mehrheitsfähigkeit bei Wahlen verlieren werde, sollte es ihm nicht gelingen, einerseits die zur linken Mitte tendierenden Bürger, andererseits die in die politisch Abstinenz abwandernde konservative Klientel zu bedienen.

So stand notwendig die Frage im Raum: Ist die strukturelle Mehrheitsfähigkeit des Bürgertums aus dem bestehenden Parteienangebot heraus – also konkret über die jeweils bundesweite Ausdehnung der Unionsparteien nach den Vorstellungen des Franz Josef Strauß – zu sichern, oder bedarf es der Neugründung einer konservativen Partei? Fast schon prophetisch stellte die Analyse seinerzeit fest:

„Jedwede rechtskonservative Parteineugründung wird umgehend dem eher links orientierten, medialen Trommelfeuer ausgesetzt. Parteimitglieder mit dubioser Vergangenheit können hierbei die Diffamierungspotentiale deutlich verstärken: Bürgerlich-rechtskonservative Bewegungen werden so medial unter einen rechtsradikalen bis rechtsextremistischen Generalverdacht gestellt. Die mit der generellen Stigmatisierung konservativer Inhalte als rechtsextremistisch einhergehende Gefährdung einer in der Breite der Bevölkerung verankerten Parteiendemokratie wird entweder nicht gesehen oder gezielt ausgeblendet.

Dieses ‚Austrocknen‘ rechtskonservativer Bewegungen wird in der Regel nicht nur von der politischen Linken als Erfolg gewertet – auch die Unionsparteien selbst betrachten dieses als einen Beleg für ihre eigene Integrationskraft extremistischer Tendenzen. Dieses allerdings wäre ausschließlich dann als zutreffend zu konstatieren, wenn die Wählerschaft der neuen Bewegungen den Weg zu den Unionsparteien finden würde, was – wie dargelegt – offensichtlich nicht der Fall ist. Dennoch ist die Stigmatisierung rechtskonservativer, politischer Positionen gleichsam ein Mehrheitskonsens der bundesdeutschen Gesellschaft, der jedoch ungeahnte und für die Demokratie problematische Konsequenzen entwickeln kann.

Zum einen ist erfahrungsgemäß davon auszugehen, dass aus dem politischen Prozess ausgegrenzte Minderheiten einer schleichenden Radikalisierung unterliegen, Als von der Mehrheitsgesellschaft nicht beachtete Mindermeinung wird die – vielleicht sogar unbewusste – Abkehr vom parlamentarischen System dadurch nicht gemindert, sondern verstärkt. Ein deutlicher Beleg für diese Entwicklung findet sich in der beständigen Zunahme der Wahlverweigerung, die auf Landesebene oftmals bereits 40 % der wahlberechtigten Bevölkerung umfasst. Diese Gruppe repräsentiert damit mehr Bürger als jede gewählte Partei. Auf Bundesebene hat sich dieser Wert zuletzt auf ein Drittel der wahlberechtigten Bevölkerung gesteigert, und es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sich dieser Trend umkehren wird.

Jedem Politiker – auch dem des linken politischen Spektrums – muss jedoch bewusst sein, dass ein Wahlverweigerer mit seiner Nichtbeteiligung seine Unzufriedenheit mit dem politischen System und dem politischen Angebot dokumentiert. Die von einigen Vertretern etablierter Parteien vertretene Auffassung, die Menge der Wahlverweigerer sei irrelevant, solange die verbleibende Wählerschaft demokratisch legitimierte Regierungsbildungen ermöglicht, geht letztlich an der Sache vorbei, wenn der demokratische Prozess nur noch von sechzig oder weniger Prozent der Bürger getragen wird.“

Soweit das Zitat aus 2013. Mit den Ergebnissen der aktuellen Allensbach-Umfrage könnten wir nun einerseits sarkastisch feststellen: Da habt Ihr den Salat – wir haben es Euch schon vor knapp zehn Jahren prophezeit! Andererseits allerdings ist auch festzuhalten: Jener Sockel, der 2012 als „demokratie-verdrossen“ anzunehmen war, scheint zumindest nicht weiter gewachsen zu sein. Waren es 2012 knapp ein Drittel, so ist es auch 2021 knapp ein Drittel der Bevölkerung, das mit dem bestehenden politischen System hadert.

Allerdings ist hier auf die Feinheiten zu achten. Denn die 2021-Aussage lautet nicht, dass der Befragte mit dem bestehenden Parteiensystem unzufrieden sei – sie stellt bereits kategorisch die Bundesrepublik mit der Feststellung einer „Schein-Demokratie“ außerhalb dessen, was gemeinhin unter einem demokratischen Regierungssystem verstanden wird.

Die BRD als autoritäres Herrschaftssystem

Eine „Schein-Demokratie“ ist in ihrer Verständnislogik ein autoritäres Herrschaftssystem, das sich zwecks besserer Außendarstellung nur (noch) den Anschein gibt, eine Demokratie zu sein. Wer von der BRD als „Schein-Demokratie“ spricht, sagt damit durch die Blume: Wir leben in einer Autokratie! Das geht weit über das hinaus, was bereits in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts als „Politik-Verdrossenheit“ bezeichnet wurde und was wir oben noch als „Demokratie-Verdrossenheit“ tituliert hatten.

Mehr Toleranz wagen
Auch der Demokratie drohen innere und äußere Feinde
Die Allensbach-Feststellung teilt uns zudem noch etwas anderes mit: Den Kritikern geht es nicht darum, ein demokratisches Modell durch ein nicht-demokratisches zu ersetzen, wie aus linken Kreisen gern den behaupteten Rechten unterstellt wird. Es geht ihnen vielmehr darum, ein demokratisches System (wieder) herzustellen, von dem sie annehmen, dass es nicht oder nicht mehr existiert. Wer einem Herrschaftsmodell „Schein-Demokratie“ unterstellt, der lässt damit wissen: Ich hätte gern eine „echte“, eine „wahrhaftige“ Demokratie. Der Vorwurf einer „Schein-Demokratie“ kommt in seiner Logik aus der Demokratie selbst – nicht aus dem Feld jener, die die Demokratie für ein überholtes oder untaugliches Modell halten.

Nun ist ohne Zweifel festzuhalten, dass „Demokratie“ mittlerweile ein fast schon beliebig einsetzbarer Politikbegriff geworden ist, den vermutlich vom Linksextremisten bis zum Rechtsextremisten jeder für sein möglicherweise noch so totalitäres Herrschaftsmodell beansprucht. Doch sollten wir jenseits dieser Feststellung davon ausgehen können, dass bei einer Festlegung von 31 Prozent der Anteil der darunter fallenden politischen Extremisten keine tatsächliche Relevanz hat. Diese Auffassung wird dadurch unterstrichen, dass es eben auch jene 28 Prozent gibt, die eine grundlegende Änderung des demokratischen – nicht des politischen – Systems in der Bundesrepublik einfordern.

Die Allensbach-Manipulationen

An dieser Stelle nun allerdings wird die für den SWR erstellte Allensbach-Untersuchung fragwürdig – und wir dürfen feststellen, dass der Tod der exzellenten Elisabeth Noelle-Neumann im Jahr 2010 zutiefst zu bedauern und sie beim Institut nicht zu ersetzen ist. Denn der Projektleiter der Studie, Thomas Petersen, kommt nun zu Schlüssen, die durch sein Untersuchungsergebnis nicht im Ansatz zu halten sind, und die von der Allensbach-Gründerin vehement zurückgewiesen worden wären.

Mag es der Hoffnung geschuldet sein, auch künftig lukrative Aufträge aus den von Zwangsabgaben finanzierten öffentlich-rechtlichen Medienanstalten zu erhalten – mag es schlicht das unreflektierte Schwimmen im gefühlten Strom sein: Petersen lässt sich bei SWR aktuell mit dem Satz zitieren: „Wir haben einen deutlichen Zusammenhang zwischen einer rechtsradikalen politischen Auffassung und der Häufigkeit, bei der jemand Verschwörungstheorien in Bezug auf Corona vertritt.“ Hierzu muss man wissen: Das veröffentlichte Studienergebnis der „Schein-Demokratie“ vermittelt eher den Eindruck eines Abfallprodukts. Denn laut SWR stand „im Mittelpunkt der Allensbach-Umfrage die Frage, inwieweit Verschwörungstheorien und demokratiegefährdende Meinungen im Zusammenhang mit dem Protest gegen die Corona-Maßnahmen stehen“.

Begrenzung der Macht
Vom Versagen des Westens und seiner Demokratie
Was nun hat die merkwürdige Verknüpfung von „Verschwörungstheorien“ und „demokratiegefährdenden Meinungen“ im Zusammenhang mit Protesten gegen Corona-Maßnahmen inhaltlich und in der Sache mit der Feststellung zu tun, dass 31 Prozent der Befragten von einer „Schein-Demokratie“ ausgehen? Bedauerlicherweise hat der SWR die komplette Studie bislang nicht veröffentlicht – und dem Institut offenbar auch keine entsprechende Freigabe erteilt. So sind wir auf die wenigen Aussagen angewiesen, die die Mitteilung der Sendeanstalt zugänglich macht. Und diese lassen, so die nachfolgende Interpretation nicht völlig falsch liegen sollte, tatsächlich eine überaus erschreckende Feststellung treffen. Eine Feststellung allerdings, die sich weder gegen die Corona-Maßnahmenkritiker manifestiert noch auf die „Schein-Demokratie“-Feststeller bezieht – sondern auf die Sendeanstalt und das von dieser beauftragte Institut.
Wer Meinungen für demokratiegefährdend hält, gefährdet die Demokratie

Erschreckend ist zuvörderst die Aussage des Studienauftrags von jenen „demokratiegefährdenden Meinungen“. Es wäre Thomas Petersen und dem SWR dringend anzuraten, einmal einen Blick in das deutsche Grundgesetz zu werfen. Denn dort wird in Artikel 5 ausdrücklich festgestellt, dass eine Meinung in einer Demokratie „frei“ ist – und „frei“ bedeutet auch, dass sie das politische System und deren Repräsentanten vorbehaltlos kritisieren und sogar deren Legitimation in Abrede stellen darf.

Wer nun allerdings als staatlich kontrollierte Anstalt oder von einer solchen beauftragt von einer „demokratiegefährdenden Meinung“ spricht, der demaskiert sich unweigerlich selbst als Demokratiefeind. Denn wenn jemand davon ausgeht, dass das Kernelement eines jeden demokratischen Systems – und das ist die Freiheit der Meinungsäußerung – „demokratiegefährdend“ ist, der geht notwendig auch den nächsten Schritt, diese von ihm als „Demokratiegefährdung“ definierte Meinung mit einem Bann belegen und damit ausschalten zu wollen.

Petersen und der SWR mögen bitte verstehen: In einer wahrhaftigen Demokratie kann Meinung niemals demokratiegefährdend sein, weil sie deren Lebenselixier ist. Nur Handlungen, die auf die Abschaffung der Demokratie zielen, können diese gefährden. Handlungen aber sind keine Meinungen – und Meinungen sind keine Handlungen.

Wer die Demokratie reformieren will, ist der Demokratie Feind

Damit allerdings ist der verfassungsgefährdende Angriff der Studieninterpreten noch nicht einmal ausgeschöpft. Denn offensichtlich ist es so, dass für Petersen und seine Auftraggeber die Feststellung eines Befragten, er halte die Bundesrepublik für eine „Schein-Demokratie, in der der Bürger nichts zu sagen“ habe, selbst bereits „demokratiegefährdend“ ist. So wird also jener, der sich zur Demokratie bekennt, und zu immerhin 28 Prozent der Befragten deren Reform auf ihren eigentlichen, demokratischen Kern fordert, zum Demokratie- und damit zum Verfassungsfeind stigmatisiert.

GETTR-CEO JASON MILLER
„Je mehr Meinungsfreiheit, desto besser“
Nicht nur, dass damit die offensichtliche Kernaussage der Studie konterkariert wird – ein solches Denken offenbart auch unverkennbar, dass der vorgebliche Demokratieansatz dieser Herrschaften selbst totalitär und antidemokratisch ist. Denn wer einem Mitbürger das demokratische Recht abspricht, eine Verbesserung der Demokratie nach seinen Vorstellungen oder auch eine Demokratisierung eines nach seiner Auffassung entdemokratisierten Staatswesens einzufordern, der ist selbst ein Anti-Demokrat, der offensichtlich davor zurückschreckt, das demokratische Grundelement des freien Meinungsaustausches auch nur im Ansatz zuzulassen.

Petersen und der SWR bewegen sich damit zwar auf der gleichen Verständnisebene, wie der vom Verfassungs- zum Staatsschützer mutierte Thomas Haldenwang vom Bundesamt für Verfassungsschutz – doch das macht es nicht besser. Die Stigmatisierung eines Drittels der Bevölkerung zu Anti-Demokraten, weil sie die Meinung vertreten, in einer Schein-Demokratie zu leben, kann nur aus der Gedankenwelt eines totalitären Meinungsdiktatoren entspringen. Und so stellt sich die Frage, welchen Wert außer eben dieser Feststellung selbst und der Forderung von 28 Prozent, die aus ihrer Sicht gefährdete Demokratie wieder zu einer wahrhaftigen Demokratie zu machen, die Allensbach-Studie tatsächlich hat. Noelle-Neumann jedenfalls hätte sich gehütet, dem Kritiker einer spezifischen, staatsverordneten Demokratieauffassung grundsätzliche Demokratiefeindlichkeit zu unterstellen.

Forum für Reformideen

Wie dem auch sei: Diese Kritik eines knappen Drittels der Bevölkerung ist weder per se demokratiefeindlich noch sonst in irgendeiner Weise zu stigmatisieren. Vielmehr gibt sie den Anlass, nun ein Projekt in Angriff zu nehmen, über welches TE-Autoren bereits seit Längerem nachdenken. Ansporn dazu sind auch zahlreiche Leser, die uns zwar loben, weil wir regelmäßig unsere Finger in die Wunden legen, die jedoch bemängeln, dass wir keine Wege aufzeigen, wie diese Mängel zu überwinden wären.

TE-Autoren wollen in lockerer Folge Beiträge veröffentlichen, die sich auf jeweils konkrete Demokratiemängel beziehen und mögliche Lösungsansätze zur Diskussion stellen. Hierbei kann es durchaus sein, dass auch unterschiedliche, sich vielleicht sogar widersprechende Ansätze debattiert werden. Doch genau dieses Vorgehen soll dazu dienen, TE-Leser zu ermutigen, mit uns und untereinander in eine angeregte Diskussion einzusteigen.

Der erste Ansatz, der demnächst als Beitrag von mir erscheinen wird, will sich mit dem Wahlrecht in einer parlamentarischen Massendemokratie beschäftigen – ein Problem, das in der Realität seit geraumer Zeit mehr als virulent ist, weil das nicht mehr leistungsfähige Wahlrecht zwar sogar vom Bundesverfassungsgericht bemängelt wurde, doch „die Politik“ – also jenes Parlament, das sich durch Selbstaufblähung ständig vergrößert – sich bislang außerstande sieht, hier zielorientierte Korrekturen aufzuzeigen.

Auf eine gute Diskussion.

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