Das „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)“ meldete in seinen „Aktuellen Meldungen“ am 6. Januar dieses Jahres: „Von Januar bis Dezember 2015 wurden im EASY-System 1.091.894 Zugänge von Asylsuchenden registriert.“
Bundesinnenminister Thomas de Maizière übernahm diese Zahlen. Das BAMF wie das Innenministerium wiesen bei der Veröffentlichung der EASY-Zahlen („Erstverteilung der Asylbegehrenden“) darauf hin, bei den erfassten 1,1 Millionen Zugängen von Asylsuchenden könnten Fehl- und Doppelerfassungen enthalten sein. Zugleich machten Polizei sowie Innenpolitiker darauf aufmerksam, es gebe eine Dunkelziffer an nicht registrierten Zuwanderern, die sich in Deutschland aufhielten.
Jetzt hat de Maizière neue Zahlen vorgelegt. Danach wurden im Jahr 2015 insgesamt 890.000 Asylsuchende erfasst. Auch für die ersten neun Monate des laufenden Jahres gibt es laut Innenministerium neue Zugangszahlen: 210.000 bis Ende September. Ein paar Wochen vorher, am 9. September, hatte das BAMF mitgeteilt: „Von Januar bis August 2016 wurden im EASY-System 256.567 Zugänge von Asylsuchenden registriert.“
Halten wir also fest: Die Bundesregierung hat jetzt amtlich festgestellt, dass sie für das Jahr 2015 ebenso wie für die ersten drei Quartale 2016 von überhöhten Zuwandererzahlen ausgegangen ist. Zugleich gibt sich de Maizière zuversichtlich, dass die Zugangszahlen niedrig blieben. Momentan kämen aufgrund des EU-Türkei-Abkommens und der geschlossenen Balkan-Route monatlich weniger als 20.000 Personen in Deutschland an. Für alle, die nicht von einer unbegrenzten Zuwanderung schwärmen, sind das eigentlich positive Nachrichten.
Doch bleiben eine ganze Reihe von Ungereimtheiten und Fragen.
1) Die Differenz zwischen den 1,091 Millionen Zugängen vom Januar und den 0,89 Millionen von Anfang Oktober ist beträchtlich. Sie bestätigt auf erschreckende Weise das Ausmaß des staatlichen Kontrollverlusts im vergangenen Jahr.
2) Dass es so lange gedauert hat, bis das Ausmaß der Zuwanderung unter der Überschrift „Asyl“ festgestellt werden konnte, begründet die Regierung „mit der Lage im Herbst 2015“, als Monat für Monat mehr als 100.000 Menschen kamen. Auch hier stellt sich die Frage nach den Kontrollmöglichkeiten des Staates und der Leistungsfähigkeit der Verwaltung.
3) Es ist nur schwer zu verstehen ist, dass im EASY-System für die ersten acht Monate dieses Jahres 256.000 Asylsuchende registriert wurden, drei Wochen später das Innenministerium für die ersten neun (!) Monate jedoch nur noch 210.000 angibt. Da jedoch auch im September 14.000 bis 15.000 Flüchtlinge gekommen sein dürften, muss das BAMF in ganz kurzer Zeit etwa 50.000 Doppelzählungen entdeckt haben. Das klingt nicht sehr glaubwürdig.
4) Offenbar hat das BAMF für das Jahr 2015 die Doppel- und Mehrfachzählungen eliminiert. Aber es gibt keinerlei Hinweise, dass die deutschen Behörden auch nur einen einzigen Zuwanderer auffinden konnten, der sich bisher „ohne Behördenkontakt“, wie es im Amtsdeutsch heißt, hier aufhält.
5) Der Kontrollverlust hinsichtlich der nicht erfassten und registrierten Zuwanderer dürfte also weiterhin beängstigend hoch sein. Die Migrationsforscherin Dita Vogel von der Universität Bremen errechnete nach Angaben der Welt am Sonntag für das Jahr 2014 zwischen 180.000 und 520.000 „irregulär aufhältige“ Ausländer in Deutschland. Demnach müssten im vergangenen Jahr, als die Grenzen weit offen standen, eine beträchtliche Zahl an „Irregulären“ dazugekommen sein.
6) Es gibt Schätzungen, wonach im vergangenen Jahr etwa 200.000 Menschen unbemerkt ins Land gekommen sein sollen. Die Bundespolizei hat mehrfach auf die damit verbundenen Gefahren hingewiesen. Aber das Wissen des Rechtsstaats über das tatsächliche Ausmaß ist begrenzt, seine Möglichkeiten, illegale Zuwanderung zu unterbinden, bei offenen Grenzen auch.
Die Korrektur der Zuwandererzahlen nach unten ist von Politik und Medien weitgehend als Beweis für die „Wir-schaffen-das“-Theorie aufgefasst worden. Dabei geriet aus dem Blick, dass die Bundesregierung für das laufende Jahr mit einer Gesamtzahl von Flüchtlingen „unterhalb der 300.000“ rechnet. Das wären dann rund 50 Prozent mehr als im Jahr 2014 mit 203.000 Asylsuchenden – dem Beginn der Migrationskrise.
Offen bleibt nach wie vor, wie BAMF und Innenministerium rechnen. Die Rechnung für 2015 müsste eigentlich lauten: 1,1 Millionen minus 200.000 Doppelzählungen plus X entdeckte „Irreguläre“. Aber wie groß X in Wirklichkeit ist, weiß offenbar niemand. Man hat den Eindruck: Viele wollen es auch gar nicht so genau wissen.
Eines dagegen wissen wir: 2015 wanderten insgesamt rund 2 Millionen Menschen nach Deutschland ein, gut eine Million EU-Bürger und 0,9 Millionen Asylsuchende. Dazu kamen aber lediglich 82.000 aus Drittstaaten, um hier eine qualifizierte Arbeit aufzunehmen. Darunter waren ganze 5.867 Hochqualifizierte, die mit Hilfe der „Blue Card“ kamen. Das traurige Fazit: Deutschland ist für Asylsuchende attraktiver als für hochqualifizierte Arbeitssuchende.