Ein Journalist hat kürzlich die Behauptung in die Welt gesetzt, die Klausurtagung der CDU-Spitze Anfang Juni habe einen Zweck: die baldige Ablösung Angela Merkels als Kanzlerin durch Annegret Kramp-Karrenbauer in die Wege zu leiten. Fast die gesamte „Hauptstadtpresse“ sprang auf diesen Zug auf. Doch der mediale Hype um das nahende Ende der Endlos-Kanzlerin hielt nicht lange an. Merkel selbst dementierte, es gebe in dieser Frage irgendwelche Festlegungen. Man mag zwar die ironische Frage stellen, woher eine Regierungschefin die Chuzpe nimmt, einfach nicht dem Szenario zu folgen, auf das sich die Medien mehrheitlich festgelegt haben. Aber sie hat es einfach getan – übrigens nicht zum ersten Mal.
Die Spekulationen über eine rasche Inthronisation von AKK nach der EU-Wahl machten ohnehin wenig Sinn. Denn erstens ist ein Kanzlerwechsel ohne Zustimmung der Amtsinhaberin so gut wie nicht möglich. Und zweitens weiß keiner, wie die politische Landschaft nach dem 26. Mai aussieht, wenn die Abgeordneten für das Parlament der EU bestimmt und das Landesparlament von Bremen sowie die kommunalen Vertretungen in zehn Bundesländern gewählt worden sind.
Eine am Amt festhaltende Kanzlerin könnte allenfalls auf andere Weise zum Rücktritt gedrängt werden. Dann müsste die CDU/CSU-Fraktion der eigenen Kanzlerin nach dem Vorbild der britischen Tories bei verschiedenen Projekten die Mehrheit verweigern, sie auflaufen lassen, um sie auf diese Weise für einen Rückzug „weichzukochen“. Damit würde die Union zugleich ihre eigenen Minister desavouieren; vor allem aber würde die Union sich selbst schwer beschädigen. Eine Partei, die in der Bevölkerung die immer noch sehr angesehene Merkel auf diese Weise zu beschädigen suchte, machte sich selbst lächerlich – und für viele Bürgerliche unwählbar.
Das alles sind nur theoretische Überlegungen, da die politische Welt nach dem 26. Mai ganz anders aussehen kann als heute. CDU/CSU und SPD müssen bei der EU-Wahl mit Verlusten rechnen. Die SPD hat überdies zu befürchten, dass sie in Bremen erstmals in der Geschichte des Stadtstaates hinter die CDU zurückfällt. Zudem drohen beiden Parteien in vielen Kommunen Verluste an die Grünen wie an die AfD. Sollten sich die Einbußen in Grenzen halten, werden die GroKo-Partner tief durchatmen und in Berlin weitermachen – jedenfalls bis zu den drei Landtagswahlen im Herbst in Sachsen, Brandenburg und Thüringen.
Ganz anders sähe es aus, wenn die SPD von den 27 Prozent bei den Europawahlen vor fünf Jahren auf 14 oder 15 Prozent zurückfiele, von den Grünen deutlich überholt würde und in Bremen in die Opposition müsste. Dann könnte der linke Flügel zum Aufstand blasen und auf einem Sonderparteitag einen Beschluss zur Beendigung der Großen Koalition durchsetzen. Frei nach dem Motto: Etwas Besseres als den Tod findest du überall. Wobei die Opposition nicht unbedingt eine Frischzellenkur ist, wie das Schicksal der seit ewigen Zeiten opponierenden bayerischen Genossen zeigt. Dann könnte Angela Merkel als Minderheitskanzlerin weiterregieren, doch wohl nicht allzu lange. Folglich stellte sich für die CDU/CSU die Frage: Jamaika-Koalition oder Neuwahlen?
Unter diesen Umständen käme es zu einer vorgezogenen Bundestagswahl. Die wiederum böte den Grünen angesichts des aktuellen „Klimarauschs“ die Chance, an der SPD vorbeizuziehen. Das böte den Grünen womöglich zwei Optionen: neben Jamaika noch Grün-Rot-Rot – mit den Grünen als Kanzlerpartei. Diese Chancen würden sich Robert Habeck und Annalena Baerbock wohl kaum entgehen lassen. Die ideologischen Gräben zwischen Grünen und Linkspartei wären zu überwinden. Bei den Themen staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft, Verstaatlichung, Umverteilung und offenen Grenzen für alle sind sich die scheinbar bürgerlich gewordenen Grünen und die Linkssozialisten recht nahe, jedenfalls näher als der CDU/CSU und der FDP. Und mit dem Kanzleramt als Großem Preis wären die Grünen zweifellos sehr flexibel.
Auch wenn in der Hauptstadt gern und viel über einen nahen Wechsel von Merkel zu Kramp-Karrenbauer spekuliert wird – in der CDU dürften selbst Merkel-Gegner insgeheim hoffen, dass die Wähler die SPD im Mai nicht allzu sehr abstrafen und somit den Stegners, Kühnerts & Genossen keinen Vorwand zum GroKo-Ausstieg liefern. Denn in der CDU geben immer noch die Pragmatiker den Ton an: Lieber recht und schlecht mit der SPD regieren als gar nicht.