Am Samstag, zum Abschluss des heute beginnenden Parteitags, werden die Genossen voll Inbrunst ihr altes Kampflied schmettern: „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ und die alten Lieder singen …“. Das wärmt das gebeutelte sozialdemokratische Herz, obwohl der Text alles andere als stimmig ist. Sie schreiten nämlich nicht Seit‘ an Seit‘:
- nicht die Genossen vom linken Flügel und die eher rechten „Seeheimer“;
- nicht die, die Minister bleiben oder werden wollen, und diejenigen, die es viel bequemer finden, ständig Nein zu sagen;
- nicht die Befürworter der lupenreinen Vertretung der „Beschlusslage“ und diejenigen, denen konkretes politisches Gestalten wichtiger ist als das Parteiprogramm;
- nicht jene Sozialdemokraten, die sich nicht einfach vom Acker machen wollen, wenn die Lage kompliziert ist, und die Vertreter kleinen parteipolitischen Karos;
- nicht Martin Schulz und Olaf Scholz,
- nicht Olaf Scholz und Andrea Nahles,
- nicht Andrea Nahles und Manuela Schwesig.
Sie alle haben ihre eigenen „Agenda 2021“. Und jeder von ihnen plant den nächsten Schritt vor allem unter dem Aspekt, was für ihn persönlich mit Blick auf die nächste Bundestagswahl besonders vorteilhaft wäre.
Nun ist die Lage nach der Bundestagswahl objektiv nicht einfach für die schwer gebeutelten Sozialdemokraten. Zu allem Überfluss hat auch noch Christian Lindner die Reise nach Jamaika in letzter Minute gecancelt, so dass der schon eingeplante Erholungsurlaub am Strand der Spree den Genossen gestrichen wurde. Also wird es nichts mit einer politischen Reha in der Opposition; die Genossen müssen irgendwie ran.
Der Parteitag wird also einen Beschluss fassen, dass die Sozialdemokraten für alles zu haben sein könnten: Regierungsbeteiligung, Unterstützung einer Minderheitsregierung oder Neuwahl. Kommt nur auf den Preis an. Den von Parteilinken und Jusos geforderten Ausschluss einer Großen Koalition wird der Parteitag freilich nicht beschließen. Da ist die Angst der „Überlebenden vom 24. September“, bei Neuwahlen ihr knapp errungenes Mandat verteidigen zu können, zu groß. Da sind auch die Pragmatiker dagegen, die der Meinung sind, 50 Prozent von den eigenen Vorstellungen in einer Koalition durchsetzen zu können, ist allemal besser, als in der Opposition vergeblich für 100 Prozent zu kämpfen.
Da sind aber nicht zuletzt die Strategen, die heimlich Christian Lindner für den Jamaika-Ausstieg danken, weil die CDU/CSU jetzt auf die SPD angewiesen ist. Sie, die 20,5 Prozent-Partei, kann der 32,9 Prozent-Union die Preise diktieren. Deshalb steht zu erwarten, dass der Parteitag in den nächsten Tagen sozialdemokratische Herzenswünsche nach mehr Umverteilung, mehr Gleichmacherei bei Renten und Krankenversicherung sowie mehr Geld für schlecht regierte EU-Länder zu Vorbedingungen für ein neues schwarz-rotes Bündnis machen wird. Diese Strategie hat schon einmal zum Erfolg geführt, nämlich 2013. Dass die SPD daraus bei der Wahl 2017 kein Kapital schlagen konnte, lag aber nicht allein an der bösen „Mutti“ Merkel. Wer, wie der abgekanzelte Gottkanzler, Wahlkampf gegen die eigenen Erfolge macht, darf sich nicht darüber beklagen, dass die Kundschaft wegbleibt.
Sie werden also nur scheinbar Seit‘ an Seit‘ schreiten – in Richtung GroKo. Aber die „alten Lieder“ werden die Genossinnen und Genossen aus voller Überzeugung gemeinsam singen: Das Lied von der schreienden Ungerechtigkeit in diesem Land, von der massenhaften Verarmung der Rentner, vom Einfluss des großen Kapitals auf die Politik und, und, und. Sie dürfen sich nur nicht darüber wundern, dass der für diese Melodie empfängliche Teil des Publikums die Klagemänner und Klageweiber von der Linkspartei für glaubwürdiger hält als die dauerregierenden Sozialdemokraten.