Um die Lage der SPD gut 100 Tage vor der Wahl zutreffend zu bewerten, muss man in den Januar zurückgehen. Gestartet war die SPD mit Martin Schulz bei 20 Prozent. Zwischenzeitlich lag sie – von den meisten Medien begeistert unterstützt – bei 33 Prozent. Jetzt – drei verlorene Landtagswahlen später – steht sie in der „Sonntagsfrage“ bei 23 bis 25 Prozent – dreizehn, vierzehn Prozentpunkte hinter der CDU/CSU. Im aktuellen „Deutschlandtrend“ der ARD führt Angela Merkel bei der „Kanzlerfrage“ deutlich mit 53 zu 29 Prozent vor Schulz. Das ist der niedrigste Wert, der für den Herausforderer bisher gemessen wurde. Die SPD ist also ungefähr wieder da, wo sie mit Peer Steinbrück bei der letzten Bundestagswahl landete (25,7 Prozent). Um es in der Börsensprache auszudrücken: Nach dem Gabriel-Tief und dem Schulz-Hoch wird die SPD wieder mit ihrem „fairen Wert“ notiert.
Eigentlich könnte “Murphy’s Law” in “Schulz’ Gesetz“ umbenannt werden: „Anything that can go wrong will go wrong.“ Denn es trifft die Lage des bereits wieder entthronten Gottkanzlers und seiner Partei recht gut. Drei Landtagswahlen – Saarland, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen – sollten Rückenwind geben für den 24. September. Am Ende standen drei krachende Niederlagen, und zum ersten Mal seit zwölf Jahren kann die CDU der SPD gleich zwei Ministerpräsidenten-Posten abnehmen – in Kiel und Düsseldorf.
Bei einem Rückstand von 0:3 wollte die SPD mit der Veröffentlichung des SPD-Wahlprogramms die Aufholjagd beginnen. Das ging ebenfalls gründlich schief. Erst wurde die Verkündigung abgesagt, dann wieder angesetzt. Überdies fehlten in dem Entwurf die beiden zentralen Kapitel Rente und Steuern. Zu guter Letzt stand auf dem Papier auch noch „Mehr Zeit für Gerechtigkeit“ statt „Zeit für mehr Gerechtigkeit“. Murphy hat doch Recht: „Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen.“
Inzwischen hat Schulz sein Rentenkonzept nachgeliefert. Es funktioniert nach dem Motto: mehr Geld für die Alten, höhere Lasten für die Jungen. Zudem soll es nur bis 2030 gelten. Für einen „Neuen Generationenvertrag“ eine etwas kurze Zeit. Ohnehin drängt sich die Frage auf, warum Arbeitsministerin Andrea Nahles jetzt plötzlich von den Rentenplänen der Großen Koalitionen abrückt, die sie selbst konzipiert hat. Glaubwürdigkeit scheint nicht gerade ihre Stärke zu sein.
Die SPD will unverändert mit dem Ruf nach „mehr Gerechtigkeit“ punkten. So äußerte sich Schulz ganz begeistert über die deutlichen Stimmengewinne des britischen Steinzeitsozialisten Jeremy Corbyn, verspricht sich von einem Treffen mit dem zweiten Sieger der Unterhauswahlen neuen Glanz. Schließlich hat Corbyn mit dem Thema Gerechtigkeit Stimmen gewonnen. Wer aber die Lage in der sozial tief gespalten britischen Gesellschaft mit der im deutschen Sozialstaat vergleicht, hat entweder keine Ahnung oder will die Deutschen bewusst in die Irre führen.
Schulz kann mehr oder weniger tun und lassen, was er will. Angesichts der großen außenpolitischen Herausforderungen – Terrorismus, Brexit, Trump und Putin – steht zwangsläufig die Kanzlerin im Mittelpunkt des Interesses, nicht ihr Herausforderer. Krisenzeiten sind Kanzlerzeiten. Auch spüren die Bürger: Als Präsident des EU-Parlaments war Martin Schulz zwar auf jedem Gipfel-Foto zu sehen; die entscheidenden Statements kamen aber von Merkel. Inzwischen ist Schulz von der internationalen Bildfläche völlig verschwunden. Und im Inland kämpft er fast verzweifelt um Aufmerksamkeit, steht im Schatten von Außenminister Sigmar Gabriel.
Schulz hat jedoch ein weiteres Problem: Noch immer weiß niemand so richtig, wie er seine Versprechungen finanzieren und mit wem er sie verwirklichen will. Vier Monate nach seiner Inthronisation und vier Monate vor dem Wahltag fehlt Schulz eine überzeugende Botschaft. Seine Gerechtigkeitslyrik geht jedenfalls am Lebensgefühl der Allermeisten vorbei. Die „hart arbeitende Mitte“ wälzt sich eben nicht nachts vor lauter Sorgen schlaflos in den Betten, wie Schulz der Bevölkerung einreden will. Tendenziell depressiv werden die Bürger allenfalls, wenn sie auf ihrer Gehaltsabrechnung sehen, wie wenig netto vom Brutto bleibt.
Zugegeben: Schulz ist inzwischen in vielen Punkten konkreter als zu Beginn seiner Kampagne. Um die Stichworte „Gerechtigkeit“ und „Respekt“ hat er eine Reihe von Vorschlägen gepackt: Verlängerung des Arbeitslosengeldes I („Arbeitslosengeld Q“), ein Familiengeld, noch mehr Teilzeitmöglichkeiten für berufstätige Eltern, kostenlose Bildung und Ausbildung für alle, bessere Schulen, mehr Geld für alle Rentner, ein kräftiger Zuschlag für Bezieher niedriger Renten, mehr öffentliche Investitionen. Dies alles würde den Steuerzahler schätzungsweise 30 bis 40 Milliarden Euro kosten – jährlich. Wie Schulz das finanzieren will, bleibt offen.
Potentielle SPD-Wähler tappen zudem bei der entscheidenden Frage, mit wem Schulz denn koalieren möchte, ebenfalls im Dunkeln. Bisher jedenfalls hat Schulz eine Kanzlerschaft an der Spitze von Rot-Rot-Grün nicht ausgeschlossen. Er hält sich also die Tür zu einem Kabinett mit Außenminister Jürgen Trittin, Finanzministerin Sahra Wagenknecht und Claudia Roth als Integrationsbeauftragten bewusst offen. Was immer Schulz zu Rot-Rot-Grün noch sagen oder nicht sagen wird: Wer wie die SPD in Berlin, Brandenburg und Thüringen mit der umbenannten SED gemeinsame Sache macht, wer das im Saarland angestrebt und in Nordrhein-Westfalen erst angesichts sinkender Umfragezahlen ausgeschlossen hat, der ist in dieser Frage einfach nicht glaubwürdig.
Die Landtagswahlen waren für Schulz nicht nur ein Desaster. Auch wenn in NRW, an der Saar und im hohen Norden landesspezifische Fragen eine große Rolle spielten: Das eigentliche Gewinner-Thema der CDU war die Innere Sicherheit. Für das gestiegene Sicherheitsbedürfnis der Menschen gibt es ein symbolträchtiges Ereignis: Die Silvesternacht 2015/16, als es in Köln zu massenhaften Übergriffen von „Flüchtlingen“ kam – insbesondere gegen Frauen. Spätestens seit Köln ist – von hartnäckigen Gutmenschen abgesehen – allen klar geworden, dass eben nicht jeder Zuwanderer „eine Bereicherung“ darstellt.
Beim Thema Sicherheit wird den Unionsparteien von den Wählern traditionell eine höhere Kompetenz zugeschrieben als der SPD. Zudem hat der riesige Zustrom an Asylbewerbern, Kriegsflüchtlingen und illegalen Migranten die Zahl der Straftaten ansteigen lassen und bei Vielen das Gefühl der Unsicherheit erhöht. Dies alles wäre ohne Angela Merkels „Politik der offenen Tür“ und dem damit verbundenen Kontrollverlust des Staates so nicht gekommen. Doch Martin Schulz und die SPD können dies nicht zu ihren Gunsten ausschlachten. Schließlich haben sie die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin im Herbst 2015 uneingeschränkt unterstützt. Zudem wäre der Zustrom aus fremden Kulturkreisen noch viel größer ausgefallen, wenn 2015 Rot-Grün die Bundesregierung gestellt hätte.
Zurück zum Start der Schulz-Manie: Damals gingen die medialen Jubelchöre davon aus, Martin Schulz könne über Wasser gehen – verzichte nur aus Bescheidenheit auf diese Demonstration seines Gottkanzlertums. Schulz als Sankt Martin, Schulz der Erlöser, Schulz-Zug, Schulz-Effekt, MEGA-Schulz – das alles ist gar nicht so lange her. Doch spätestens seit der NRW-Wahl ist vom Schulz-Hype ist nur der Schulz geblieben: Zeit für Schulz? Zeit für die Wirklichkeit!