„Chrismon – Das evangelische Magazin“, das vielen großen Zeitungen zu Beginn des Monats beiliegt, ist keine frömmelnde Postille. Es setzt sich vielmehr auf durchaus zeitgemäße und keineswegs dogmatische Weise mit der Bedeutung von Glaube und Religion auseinander. Dass Nächstenliebe großgeschrieben wird, liegt nahe – auch und gerade im Umgang mit „Flüchtlingen” und Fremden.
In der September-Ausgabe beschreibt Jonas Weyrosta in „Wie geht es Mohamed?“ auf sieben Seiten das Schicksal des Algeriers Mohamed Messaoudi. Der war 1993 nach Deutschland gekommen, hatte mit seinen drei Anträgen auf politisches Asyl keinen Erfolg und zog 2001 der drohenden Abschiebung eine Rückreise nach Algerien vor. Seitdem lebt er offenbar glücklich und zufrieden mit Frau und vier Kindern in Oran im Norden Algeriens. Dort hat der „Chrismon“-Autor ihn jetzt besucht, wobei das journalistische Interesse einen sehr privaten Hintergrund hatte: Die Großeltern Weyrostas hatten den Asylsuchenden jahrelang betreut; zeitweilig hatte er bei ihnen im württembergischen Krautheim gewohnt. Seit Mohameds Abreise aus Deutschland telefonieren die Großmutter und „ihr“ Flüchtling mindestens einmal im Monat. Hier besteht offensichtlich eine enge persönliche Verbindung. Weyrosta, der Enkel und Autor, hat als Kind Mohamed bei den Großeltern kennengelernt.
Wenn wir das durchaus sympathische Zwischenmenschliche beiseite lassen, ergibt sich ein sehr nüchternes Bild eines Asylbewerbers, der keiner war. Mohamed kam laut „Chrismon“ 1993 mit einem Touristenvisum nach Rom, „zerstörte“ sofort seinen Pass, zog durch Frankreich weiter nach Karlsruhe und stellte nach fünf Tagen seinen ersten Asylantrag. Jetzt erzählt er ganz offen, wie es dazu kam: „Bevor ich in Deutschland ankam, wusste ich nichts von eurem Asylsystem.“ Ein anderer Flüchtling hatte ihm in Karlsruhe geraten: „Entweder du heiratest eine Frau, du lebst vom Drogenschmuggel, oder du beantragst Asyl.“ Also entschied sich Mohamed für den dritten Weg, das Asyl. „Ich träumte von einem Leben in Europa“, sagt er im Rückblick – und spielte den politisch Verfolgten. Bei seiner Bamf-Anhörung hatte er 1993 zudem Schwierigkeiten mit der Polizei angegeben, „weil sie gegen Berber sind“. Nach der Rückkehr spielte das ebenfalls keine Rolle mehr.
Mohamed suchte sich einen anderen Namen und eine andere Nationalität: „Dann wurde er Antonio Fontonato aus Italien. Mohamed wollte mit dem falschen Pass nach Kanada fliegen, Europa schien aussichtslos. Die Zollbeamten hielten ihn am Flughafen Düsseldorf auf.“ Der Großvater des Autors „kaufte ihn frei“, wie es in der Reportage heißt. Wie „Freikauf“ in einem Rechtsstaat funktioniert, erklärt der Enkel nicht.
Der Autor kannte nur die Geschichte von dem in Deutschland chancenlosen politischen Flüchtling und der Hilfsbereitschaft seiner Großeltern. Jetzt schreibt er: „Ich bin verunsichert. War die Flucht inszeniert? Später ist auch meine Großmutter überrascht, als ich ihr davon erzähle, aber sie sagt: „Ist das wirklich wichtig, Jonas? Mohamed brauchte Hilfe, und wir haben geholfen.“
Die Botschaft in dieser „Chrismon“-Story ist klar: Ein Mensch suchte Hilfe, eine Familie hilft ihm selbstlos und großzügig, setzt sich nach Kräften für ihn bei Ämtern und Behörden ein, kämpft um seine Anerkennung als politisch Verfolgter. Mag dieser „Asylbewerber“ die Großzügigkeit dieser deutschen Familie ausgenutzt, mag er sie auch angelogen haben: Die Helfer nehmen ihm das nicht übel – Nächstenliebe pur.
Man kann auch andere Schlüsse daraus ableiten. Erstens: Nicht jeder, der „Asyl“ sagt, ist auch tatsächlich verfolgt. Zweitens: Um ihr Ziel zu erreichen, setzen sich viele Asylbetrüger über Recht und Gesetz hinweg. Drittens: Die Hilfsbereitschaft wohlmeinender Mitmenschen schamlos auszunutzen, stört manchen Asylbetrüger überhaupt nicht. Viertens: Viele, die unter allen Umständen hier bleiben wollen, stört ebenso wenig, dass sie den deutschen Steuerzahler hintergehen, der beispielweise für Mohamed zwischen 1993 und 2001 viel Geld aufwenden musste – für seine Versorgung als Geduldeter, für medizinische Betreuung, für unzählige Verfahren.
Die Antwort auf die Frage „Wie geht es Mohamed?“ fällt eindeutig aus: Gut. Das ist aus der Sicht von „Chrismon“ offenbar auch gut so. Ebenfalls gut ist, dass die Helfer von einst sich wohlfühlen. Das Problem ist nur, dass wir wahrscheinlich mehr „Mohameds“ bei uns haben, als uns lieb sein kann. Denn viele „Mohameds“ sind beim Tricksen und Täuschen in Deutschland erfolgreicher als dieser nette Kerl aus Algerien: „Mohamed strahlt eine überwältigende Zärtlichkeit aus. (…) Sein grauer Bart schimmert auf der sommerbraunen Haut“, berichtet der Enkel der hilfreichen Großeltern. Man möchte ein „Amen“ hinzufügen.