Mit dem Respekt-Kriterium hebelt Heil unser Sozialsystem aus. Politik hat viel mit Verkaufen zu tun. Ein eingängiger Begriff kann die Akzeptanz einer bestimmten Regelung durchaus erhöhen. „Solidaritätszuschlag“ war für die zeitlich begrenzte Steuererhöhung zur Finanzierung der Einheit sicher ein besserer Name, als es „Sondersteuer zur Finanzierung einheitsbedingter Lasten“ gewesen wäre.
Bisweilen gewinnt aber das Polit-Marketing die Überhand über die eigentliche Politik. So tragen zwei kürzlich verabschiedete Gesetze – „Gute-Kita-Gesetz“ und „Starke-Familien-Gesetz“ – eher zur Infantilisierung der Politik als zu ihrer Erklärung bei. Oder kann man sich vorstellen, dass ein Parlament beschließt, schlechte Kitas einzurichten oder Familien bewusst zu schwächen?
Auf der gleichen schiefen Sprachebene bewegt sich Arbeitsminister Hubertus Heil mit der von ihm geplanten Respektrente. Rentner, die 35 Jahre lang Beiträge zur Rentenversicherung geleistet haben (einschließlich der Zeiten der Kindererziehung oder Pflegetätigkeit), aber aufgrund niedriger Löhne in der Grundsicherung landen, sollen monatlich bis zu 447 Euro mehr bekommen. Der Sozialdemokrat Heil begründet das ganz empathisch so: „Das ist eine Frage des Respekts vor Lebensleistung.“ Damit soll jeder, der seinem Konzept nicht zustimmen kann, moralisch ins Abseits gestellt werden. Wer gegen die Respektrente ist, dem mangelt es an Achtung vor kleinen Leuten mit niedrigen Löhnen. Der Linksruck der Nahles-SPD sorgt so für ein interessantes Framing.
Nun ist es in der Großen Koalition unstrittig, dass ehemalige Geringverdiener einen Zuschlag zur Grundsicherung bekommen sollen. Denn sie sollen im Alter in jedem Fall mehr erhalten als solche Altersgenossen, die nie gearbeitet haben, also direkt von der Sozialhilfe in die Rente gewechselt sind. Hätte Heil für sein Modell nur einen wahlkampftauglichen Namen gesucht, könnte man das als Spielerei abtun. Eine allein mit Respekt begründete Sozialleistung ist jedoch politisch gefährlich. Sie hebelt unser bisheriges Sozialsystem aus.
Versicherungsprinzip und Solidarität
Die Bundesrepublik gibt im Jahr fast 1000 Milliarden Euro für Soziales aus; das entspricht knapp 30 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung. Aber keine einzige der zahllosen sozialen Leistungen vom Arbeitslosengeld über Eltern- und Kindergeld bis hin zu Sozialhilfe und Wohngeld wird nach dem Kriterium Respekt gewährt. Unsere Sozialpolitik beruht generell auf den Prinzipien Versicherung und Solidarität. In der Renten- und Krankenversicherung zum Beispiel sind die Ansprüche der Bürger in erster Linie durch deren Beitragsleistungen begründet, ergänzt durch Zuschüsse aus der Staatskasse. Transferleistungen wie Hartz IV, Sozialhilfe oder Bafög fußen dagegen auf dem Gedanken der Solidarität: Die wirtschaftlich Stärkeren finanzieren Leistungen für finanziell nicht so leistungsfähige Menschen. Aber bei allen Soziallleistungen gilt: Mit der Solidarität der Beitrags- und Steuerzahler darf nur rechnen, wer wirklich auf Hilfe angewiesen ist. Deshalb gibt es für die allermeisten staatlichen Leistungen Einkommensgrenzen, bei deren Überschreiten der Anspruch entfällt, oder eine individuelle Bedürftigkeitsprüfung.
Das Solidaritätsprinzip im engeren Sinn kommt freilich nicht lupenrein zur Anwendung. Gerade bei familienpolitischen Leistungen zahlen nicht grundsätzlich die Leistungsstarken. Vielmehr tragen auch die Bezieher mittlerer Einkommen dazu bei, den sogenannten Besserverdienenden einen Teil der durch Kinder bedingten Ausgaben abzunehmen. Doch lässt sich das durchaus als Solidarität zwischen Kinderlosen und Eltern rechtfertigen. Denn die Kinder müssen eines Tages die Last der Altersversorgung tragen – auch die der Männer und Frauen ohne eigenen Nachwuchs.
Respekt als parteipolitisches Kalkül
Man kann das deutsche Sozialsystem von A bis Z durchforsten. Nirgends stößt man auf Respekt als zentrale Begründung für eine Leistung, dafür aber immer wieder auf das Kriterium der Bedürftigkeit. Nur bei der Rente soll das plötzlich nicht mehr gelten? Ob die kleine gesetzliche Rente die einzige Einnahmequelle unter vielen ist, ob der Lebenspartner sehr hohe Alterseinkünfte hat, ob der „Kleinrentner“ viel Geld auf dem Konto hat oder Immobilien besitzt – der Respekt wird zum wichtigsten Kriterium. Dahinter steckt natürlich ein ganz nüchternes politisches Kalkül. Von einem mit der Gießkanne verteilten Rentenzuschlag würden drei bis vier Millionen heutige und künftige Rentner profitieren, vor allem Frauen mit schlecht bezahlten Jobs und viele Ostdeutsche mit niedrigeren Löhnen. Der „Respekt“ der Sozialdemokraten hat also einen sehr partei-egoistischen Hintergrund.
Angesichts katastrophaler Umfragewerte ist es verständlich, dass die SPD krampfhaft nach Möglichkeiten sucht, sich wieder als Kümmerer-Partei zu profilieren. Das kann aber kein Grund sein, das Solidaritäts- und Versicherungsprinzip als Grundpfeiler unseres Sozialsystems durch ein diffuses Respekt-Kriterium zu ergänzen. Denn warum soll sich der „Respekt von der Lebensleistung“ nur bei der Rente niederschlagen? Warum keine Respekt-Zuschläge beim Arbeitslosengeld II zum Beispiel für Arbeitnehmer aus physisch wie psychisch besonders belastenden Berufen? Warum keinen Respekt-Zuschlag für alleinerziehende, berufstätige Mütter?
Warum kein Respekt-Zuschlag beim Kindergeld, wenn Mütter oder Väter ihrer Familie zuliebe auf eine Berufstätigkeit verzichten und damit den Staat bei Betreuungseinrichtungen entlasten? Warum keine Respektrente für ehrenamtlich tätige Menschen, die sich während ihrer Berufstätigkeit für die Allgemeinheit eingesetzt statt zusätzlich Geld verdient haben?
Respekt vor der Leistung anderer ist zweifellos eine positive Eigenschaft, Respekt zu bekunden steht auch Politikern gut zu Gesicht. Aber als Kriterium für zusätzliche Soziallleistungen, die ohne Bedürftigkeitsprüfung wie „Kamelle“ unters Wahlvolk geworfen werden, taugt Respekt nicht. Heil sagt Respekt – und meint Stimmenfang.