Der Fall des Berliner Mörders Anis Amri – die Bezeichnung Selbstmordattentäter verniedlicht nur – hat eine Sicherheitsdebatte ausgelöst, die schon vor mehr als einem Jahr notwendig gewesen wäre, im politischen wie medialen Willkommensrausch aber unterblieb. Nun hat sich einiges geändert – sprachlich und politisch. Also der Reihe nach:
Alle reden plötzlich vom Kontrollverlust.
Die Veränderung beginnt schon bei der Sprache. Plötzlich reden Politiker aller Parteien von einer Tatsache, die sie bis zu den Attentaten von Würzburg und Ansbach geleugnet hatten: vom Kontrollverlust des Staates angesichts eines unkontrollierten Zustroms von Flüchtlingen, Schutzsuchenden und illegalen Migranten. Selbst Wortführer der Willkommenskultur wie Die Zeit gebrauchen die einst angeblich „neurechte“ Vokabel. Sogar die taz, das Sprachrohr der MultiKulti-Ideologen, schrieb zur aktuellen Sicherheitsdebatte: „Der Rechtsstaat muss also dringend zeigen, dass er aus seinen Fehlern lernt.“ Und die Frankfurter Rundschau meinte dieser Tage: „Sachlich richtig ist, dass wir ein wachsendes Sicherheitsproblem haben, was den Terrorismus betrifft. Dies hängt mit der Flüchtlingsfrage enger zusammen, als vielen Linken lieb sein kann.“
Was besonders auffällt: All die neu bekehrten Befürworter eines zumindest stärkeren Staates tun das mit der Selbstsicherheit von Menschen, die nur wiederholen, was sie schon immer verkündet haben. Politische Amnesie scheint weit verbreitet zu sein.
Behördenversagen? Ja – aber kein politisch motiviertes.
Der Asylantrag des Mörder Amri war rechtskräftig abgelehnt worden; er sollte und musste abgeschoben werden. Die Behörden wussten, dass er mit 14 Identitäten unterwegs war und sich staatliche Hilfe ergaunerte, dass er Kontakte zu Islamisten hatte, dass er im „Auftrag Allahs“ töten wollte und sich dem IS als Selbstmordattentäter andiente, dass er mit Drogen dealte. Der Mann wurde überwacht und abgehört, aber der Staat schaffte es nicht, ihn hinter Gitter zu bringen, um ihn anschließend abzuschieben.
Wer hier wann und wie versagt hat, werden wir hoffentlich noch erfahren. Auffällig ist jedoch, dass den nicht gerade erfolgreichen Behörden in diesem Fall keine ideologische Blindheit unterstellt wird. Beim Versagen der Dienste im Fall des „Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)“ waren große Teile von Politik und Medien sich einig: Der Verfassungsschutz sei „auf dem rechten Auge“ blind. Auf den wahnwitzigen Vorwurf, Dienste und Justiz wären „auf dem islamistischen Auge“ blind, ist niemand gekommen. Immerhin ein Fortschritt in unserer viel beschworenen „Diskussionskultur“.
Wir brauchen keine neuen Gesetze – wirklich nicht?
Der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger, der im Fall Amri (mal wieder) keine überzeugende Figur abgibt, hat betont, man sei im Umgang mit dem Mörder „an die Grenzen des Rechtsstaats“ gegangen. Wenn das wirklich so ist, dann müssen die Grenzen des Rechtsstaats neu vermessen werden.
Unabhängig davon, wie man all die Vorschläge von Bundesinnenminister Thomas de Maizière, des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel und von Justizminister Heiko Maas bewertet – plötzlich sieht die Politik Handlungsbedarf. Das wirkt bei einem Innenminister, der das Amt seit 2009 insgesamt mehr als sechs Jahre bekleidet (2009 – 2011 und wieder seit 2013), etwas überraschend. Man kann auch sagen: nicht gerade glaubwürdig.
Sigmar Gabriel und die Sozialdemokraten sind seit den Zeiten Otto Schilys, der 2005 aus der Politik ausschied, nicht mehr als „Sicherheitspolitiker“ aufgetreten. Im Gegenteil: Was immer die Union vorgeschlagen oder gefordert hat, wurde schnell als Weg in den „Polizeistaat“ gebrandmarkt. Wenn Gabriel jetzt schreibt, „Sicherheit ist soziales Bürgerrecht“, dann muss man ebenso wie beim Innenminister sagen: nicht gerade glaubwürdig.
Der Blick nach vorn soll vom Blick zurück ablenken
CDU und SPD fordern unisono, nach vorn zu schauen. In der Tat hilft es wenig, heute noch lange darüber zu diskutieren, was im Herbst 2015 mit der Willkommenspolitik falsch gemacht wurde. Trotzdem dürfen wir nicht nur nach Mitteln und Wegen suchen, wie der Staat im Kampf gegen den Terror aufrüsten kann und muss. Wir müssen uns auch mit der Vergangenheit beschäftigen, nämlich damit, dass seit 2015 sehr Viele zu uns gekommen sind, von denen wir nicht wissen, wer sie wirklich sind, woher sie kommen und warum sie hier sind.
Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen hat im Juli vergangenen Jahres darauf hingewiesen, dass etwa 70 Prozent der nach Deutschland kommenden Migranten keine gültigen Pässe vorlegten. Sie würden nur aufgrund ihrer eigenen Angaben registriert. Nach Angaben von Frank-Jürgen Weise, bis vor kurzem Chef des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, spielen manche Migranten mit den deutschen Behörden Katz und Maus. Sie behaupteten, ihre Papiere wären vernichtet worden. „Bei der Ausländerbehörde aber, wo es ums Geld geht, waren sie vorhanden.“ Sein Ratschlag: Die Handys der Zuwanderer zur Identifizierung heranziehen.
Der Kontrollverlust, der durch das monatelange „Durchwinken“ tatsächlicher und vermeintlicher Flüchtlinge entstanden ist, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden; aber er ließe sich wenigstens teilweise ausbügeln – durch eine nachträgliche Überprüfung aller, die damals nicht richtig überprüft wurden. Das heißt vor allem: konsequente biometrische Erfassung. Würde die Auszahlung staatlicher Leistungen an eine Identitätsüberprüfung geknüpft, ließen sich viele angebliche Flüchtlinge als illegale Migranten überführen – ein unter Sicherheitsaspekten wichtiger Fortschritt. Ganz nebenbei würde Migranten, die mit Hilfe verschiedener Identitäten Sozialmissbrauch begehen, das Handwerk gelegt.
Last but not least: Aus den Fehlern, die in den vergangenen 15 Monaten im Umgang mit zu uns Kommenden gemacht wurden zu lernen, schuldet der Staat den hier Lebenden. Er ist es zudem den Toten und Verwundeten vom Breitscheidplatz schuldig – und ebenso deren Angehörigen und Freunden.