Ob Angela Merkel tatsächlich in diesem Jahr den CDU-Vorsitz abgeben wollte oder eher nach desaströsen Wahlergebnissen schnell die Kanzlerschaft für den Parteivorsitz zu retten versuchte? Wir werden es nie erfahren. Aber Merkel hat etwas ausgelöst, was sie dank ihrer charakteristischen Risikominimierungsierungsstrategie niemals geplant hätte: Die CDU hat plötzlich die doppelte Wahl – personell wie inhaltlich.
Nach vier von acht Regionalkonferenzen ist noch nicht entschieden, wer am Ende als Sieger dastehen wird: Merkels Wunschnachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer oder der Favorit derer, die im vergangenen Jahrzehnt unter der Sozialdemokratisierung ihrer Partei gelitten haben, Friedrich Merz, oder der junge Konservative Jens Spahn. Wobei der Zweikampf der beiden Spitzenreiter AKK und Merz unübersehbar ist: „Weiter so“ versus „back to the roots.“
Formal ist der Aufbruch gelungen
Durch Merkels Rückzug hat die Partei in jedem Fall gewonnen. Die CDU präsentiert sich offen und diskussionsfreudig. Im Gegensatz zur SPD versucht sie nicht, sich mit „Debattencamps“ und ähnlichem Marketing-Schickimicki als besonders „cool“ darzustellen. Sie macht vielmehr das Naheliegende: Die Parteimitglieder haben durch die Regionalkonferenzen und viele andere Veranstaltungen die Möglichkeit, sich in die Debatte um Führung und Richtung einzuschalten. Die endgültige Entscheidung trifft dann der Bundesparteitag – wie das Parteiengesetz es befiehlt.
Parteireform ist zweitrangig
Alle drei Kandidaten verkünden, sie wollten die Partei reformieren, den Einfluss der Mitglieder vergrößern, die Meinungsbildung nicht mehr in erster Linie von oben nach unten vorantreiben. Konkret werden sie jedoch nicht, was die Basis nicht zu stören scheint. Denn auch die rund 450.000 CDU-Mitglieder wissen, die wichtigsten Aufgaben der neuen Nummer 1 sind nicht ein neuer digitaler Auftritt oder verbindliche Frauenquoten im Ortsverein. Viel wichtiger: Einer aus dem Trio muss und wird Kanzler werden und das möglichst lange bleiben. Denn in einem ist die Partei konsequent: Machtperspektive geht vor Beschlusslagen-Treue a la SPD.
Wer immer die Merkel-Nachfolge im Kanzleramt antritt, wird ein schweres Erbe übernehmen. Denn die Zeiten einer stetig wachsenden Wirtschaft mit immer höheren Steuereinnahmen gehen ihrem Ende entgegen. Der nächste Kanzler wird nicht mehr so leicht mit Steuergeldern überall dort eingreifen können, wo es klemmt. Unsere Infrastruktur ist sanierungsbedürftig, die Digitalisierung lahmt und eine Schlüsselbranche wie die Automobilindustrie steuert gefährlich nahe am technologischen Abgrund entlang, um nur einige Herausforderungen zu nennen. Mindestens ebenso schlimm: Das vereinte EU-Europa wird immer mehr zum auseinanderdriftenden. Hierzu Konzepte anzubieten dürfte dem nächsten CDU-Kanzler schwerer fallen als irgendwelche Änderungen bei Hartz IV; sie wären für die Zukunft des Landes auch wichtiger.
AKK wäre „Merkel II“
Weil der Parteivorsitz für den Neuen oder die Neue nur ein Nebenamt sein wird, hat Jens Spahn in diesem Rennen keine Chance. Der 38ig-Jährige ist kein Sebastian Kurz und die CDU (noch) nicht so kaputt, wie es die Österreichische Volkspartei war. Spahn ist in den Augen der allermeisten CDU-Mitglieder wie der CDU-Wähler zur Zeit kein potentieller Kanzler. Deshalb hat die langjährige saarländische Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer zwei Wochen vor der Wahl die besten Karten. AKK steht für eine modifizierte Fortsetzung der Merkel-Politik, was von der Partei keinen Kurswechsel abverlangte. Eine „Merkel II“ wäre sozialpolitisch links genug, um dem Koalitionspartner SPD zu gefallen und „könnte“ sicher auch mit den Grünen.
Selbst unter Merkel-Anhängern gibt es freilich Skepsis, ob ihre Erfahrung als erfolgreiche Regierungschefin des Saarlands für die neue Aufgabe ausreichte. Da geben sich aber nicht wenige CDU-Politiker optimistisch. So wie „Kohls Mädchen“ es geschafft habe, werde auch „es Annegret“ es schaffen. Ganz abgesehen davon: Der Faktor Frau wiegt in einer sich bisweilen verkrampft zeitgeistig geben wollenden CDU inzwischen schwer.
Wer Merz wählt, wählt volles Risiko
Merz wäre zweifellos der unbequemere Vorsitzende. Er ist der Kandidat all derer in der CDU, die sich von Merkel als zu altmodisch, zu konservativ und zu wirtschaftsliberal ausgegrenzt fühlen. Nun war die CDU immer eine pragmatische und damit auch bewegliche Partei. Schon Adenauer wusste sich geschmeidig anzupassen, wenn „die Lage“ es erforderte. Helmut Kohl hat seine Politik ebenfalls ständig modifiziert. Anderenfalls wären er und die CDU nicht vier Mal im Bund gewählt worden. Hatte sich die CDU bis zur Bildung von Merkels erster großer Koalition im Jahr 2005 also durch Beweglichkeit ausgezeichnet, folgte im Laufe von 13 Regierungsjahren dann die neue Beliebigkeit. Die SPD konnte gar nicht so schnell klagen, wie ihr die CDU die Themen wegnahm.
Mit Merz würde das Profil der CDU schärfer: prinzipientreuer in der Marktwirtschaft, mit Betonung auf Erwirtschaften statt Verteilen, rechtstreuer in der Zuwanderungspolitik, standfester in der Gesellschaftspolitik. Die CDU-Basis und sehr viele Mandatsträger ahnen, dass das hart werden dürfte. Die Zeiten, in denen eine vielfach wenig profilierte CDU lau im medialen Mainstream mitschwimmen könnte, wären vorbei. Die meisten Medien, nicht zuletzt die öffentlich-rechtlichen, täten, was sie könnten, um die Merz-CDU in die Nähe der AfD zu rücken. Mit Merz müsste sich die CDU auf einen harten Kampf einstellen – und ein Durchbruch in die Region „ 35 Prozent plus“ wäre keineswegs gewiss. Passendes Motto für Merz: „Alles oder nichts.“
„Minimum-Regret-Regel“
Die CDU kann sich für Merz und damit für volles Risiko entscheiden. Wer die vielen AfD-Wähler nicht abschreiben will, wem es nicht reicht, unter drei oder vier 20-Prozent-Parteien wenigstens die größte zu sein, der kann nicht darauf setzen, dass die CDU mit einer neuen Merkel plötzlich wieder deutlich über die 30 Prozent komme. Der muss sich klar positionieren, der muss polarisieren, der muss bereit sein, notfalls unterzugehen. Das wäre die Merz-Lösung.
Will die CDU jedoch in erster Linie stärkste Partei bleiben, ganz gleich, auf welch niedrigem Niveau, dann liegt die Fortsetzung der Merkel-Politik durch AKK nahe. In der Wirtschaftstheorie nennt man das Handeln nach der „Minumum-Regret-Regel“. Mit anderen Worten. Entscheide dich so, dass du hinterher möglichst wenig bedauern musst. Für das AKK-Lager passte deshalb ein CDU-Klassiker als Wahlkampfslogan: „Keine Experimente“.