Über Hartz IV wird heftig gestritten. Die Sozialverbände, allen voran der von einem Linken-Mitglied geführte Paritätische Wohlfahrtsverband, verlangen eine deutliche Erhöhung der Sätze. Die Linkspartei betet seit 2005 unverdrossen ihren Slogan herunter, wonach der Bezug der Grundsicherung „Armut per Gesetz“ bedeute. Immer mehr Politiker aus dem links-grünen Spektrum fordern die Ablösung von Hartz IV durch ein bedingungsloses Grundeinkommen: Jeder hätte demnach Anspruch auf eine staatliche Alimentierung; arbeiten geht nur noch, wer das will.
Zudem wird heftig kritisiert, dass Hartz IV-Empfänger vor der Arbeitsagentur haarklein ihre Vermögensverhältnisse offen legen, sich „ausziehen“ müssten. Das wird interpretiert als systemimmanentes Mißtrauen gegenüber den Schwächsten der Gesellschaft, als kleinliche Bespitzelung der armen Transferempfänger, als behördliche Willkür und Schikane. Dass der Staat gegenüber seinen Finanziers, nämlich den Steuerzahlern, die Verpflichtung hat, jeglichen Missbrauch zu verhindern oder zu bekämpfen, fällt dabei unter den Tisch. Wer arm ist, ist auch ehrlich – Punkt.
Die Realität sieht freilich anders aus. Der Duisburger Sozialanwalt Wolfgang Conradis vertritt seit Jahrzehnten Sozialhilfeempfänger und Hartz IV-Bezieher, kämpft für ihre Rechte, legt Widersprich gegen Bewilligungsbescheide ein, streitet mit den Jobcentern um Kleinstbeträge. Man darf unterstellen, dass dieser Jurist, der nach eigenen Angaben bisher mehr als 5.000 Mandaten vertreten hat, die Hartz IV-Klientel bestens kennt.
In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ hat Conradis jetzt darauf hingewiesen, dass der Staat von Hartz IV-Empfänger häufiger betrogen wird, als die meisten Sozialpolitiker zugeben. Conradis wörtlich: „Es gibt nach meinem Gefühl eine Minderheit, vielleicht zehn bis 20 Prozent meiner Mandanten, die versuchen, es sich einigermaßen bequem in dem System zu machen, oder sie verdienen sich schwarz etwas dazu“ (SZ vom 27. April 2018, Seite 20). Zehn bis 20 Prozent mißbrauchen demnach das System! Wobei einiges dafür spricht, dass viele, die bewusst den Staat und damit die Steuerzahler betrügen, nicht auch noch gleichzeitig mit anwaltlicher Hilfe gegen den Staat vorgehen. Eine Missbrauch-Quote von zehn bis 20 Prozent dürfte also eher zu niedrig als zu hoch angesetzt sein.
Wenn also mindesten zehn bis 20 Prozent der staatlichen Kostgänger den Staat bewusst betrügen, dann ist das keine Bagatelle. Schließlich gibt die öffentliche Hand im Jahr mehr als 40 Milliarden Euro für Hartz IV-Empfänger aus. Das bedeutet: Vier bis acht Milliarden werden widerrechtlich kassiert, werden an Betrüger ausgezahlt – zu Lasten derer, die arbeiten und ehrlich ihre Steuern zahlen. Der Einwand, auch viele „Reiche“ zahlten zu wenig oder gar keine Steuern, trifft zwar zu, ändert aber nichts an dem Missstand. Wer den Staat nur um 1.000 Euro betrügen kann und es tut, verhält sich moralisch nicht besser als derjenige, der die Allgemeinheit um eine Million betrügen kann und es tut: Betrug ist Betrug – und Betrug an der Allgemeinheit ist asoziales Verhalten.
Man darf sich da nichts vormachen: Selbst in einem undemokratischen Überwachungsstaat ließen sich Betrug und Missbrauch nicht völlig ausschließen. Aber wenn mindesten zehn bis 20 Prozent das Hartz IV-System ausnützen können, wenn „Hartz IV plus etwas Schwarzarbeit“ zu einem weit verbreiteten Modell wird, dann ist etwas faul im Sozialstaat Deutschland. Der Kampf gegen Sozialmissbrauch ist keine Schikane; es ist die verdammte Pflicht eines sozialen Rechtsstaats. Genauer: Es wäre die verdammte Pflicht eines sozialen Rechtsstaats.