Es mag ja sein, dass der Schulz-Hype nicht bis zum 24. September anhält. Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass die Umfragewerte der SPD schwächer werden, wenn der Kanzlerkandidat in seinen programmatischen Aussagen etwas konkreter wird und die Wähler merken, dass es gar nicht so viele Milliardäre gibt, mit deren erhöhten Steuern sich die Schulzschen Wahlversprechen bezahlen ließen.
Gleichwohl: Die Chancen für einen Kanzler stehen gut. Denn die SPD hat gegenüber der CDU einen entscheidenden Vorsprung: Sie hat drei potentielle Koalitionspartner – Grüne, Linke und Freie Demokraten. Sollten die Sozialdemokraten stärkste Fraktion werden, käme noch ein vierter hinzu: Die Union als Juniorpartner bei Rot-Schwarz.
Die SPD hat sich eindeutig stabilisiert, ins Lager der Nichtwähler abgewanderte Sympathisanten zurückgeholt, ist auch für einen Teil der Wutwähler am „linken“ und „rechten“ Rand attraktiv geworden. Damit ist noch nicht gesagt, dass die Sozialdemokraten am Wahltag vor der CDU/CSU liegen werden. Aber darauf kommt es nicht an. Falls die SPD auf gut 30 Prozent kommt, kann es trotzdem für zwei Varianten reichen: für Rot-Rot-Grün oder eine Ampel aus SPD, Grüne und FDP. Wer stärkste Fraktion ist, hat für die Kanzlerfrage nämlich keine Bedeutung. Die CDU/CSU war 1969, 1976 und 1980 stärker als die SPD und schaffte es dennoch nicht ins Kanzleramt.
Rechnerisch fünf Koalitionsvarianten
Man braucht keine große Phantasie, um sich am Wahlabend eine Situation vorzustellen, in der rechnerisch fünf Koalitionsvarianten möglich sind: Schwarz-Rot, Rot-Schwarz, Rot-Rot-Grün, eine Ampel oder ein Jamaika-Bündnis von CDU/CSU, Grünen und FDP. Eine Neuauflage von Schwarz-Rot darf man jedoch getrost ausschließen; das würde die SPD nicht noch einmal mitmachen. Auch Rot-Schwarz ist eher unwahrscheinlich. Wenn es irgendwie geht, werden die Sozialdemokraten die Union auf die Oppositionsbänke schicken – neben die AfD.
Bleiben also die Varianten Rot-Rot-Grün, Ampel und Jamaika. Dabei hängt es letztlich von den Grünen und der FDP ab, ob sie mit der Union oder der SPD koalieren wollen. Und da stehen die Zeichen für Schulz und die SPD deutlich besser als für Merkel und die CDU/CSU. Die Zeiten, als Union und FDP sich gegenseitig als Wunschpartner betrachteten, sind nach der glücklosen, konfliktreichen Zeit zwischen 2009 und 2013 vorbei. Im Gegenteil: Bei der FDP gibt es viele Anzeichen dafür, dass man der CDU/CSU endlich die aus freidemokratischer Sicht demütigende Behandlung in der schwarz-gelben Koalition heimzahlen will. In Rheinland-Pfalz ist die FDP schnell und begeistert zum Lebensretter für die abgewählte rot-grüne Regierung geworden. Seitdem ist die CDU dort der Hauptgegner der Liberalen.
Auch bei den Grünen gilt: lieber mit der SPD als mit der Union. Die beiden Spitzenkandidaten Cem Özdemir und Karin Göring-Eckart scheinen zwar prinzipiell offen zu sein für ein schwarz-grünes Experiment. Doch die Wahrscheinlichkeit für ein solches Zweier-Bündnis war schon vor dem Erstarken der SPD gering. Wie hätten denn die dafür notwendigen 47 – 48 Prozent zustande kommen sollen? Ganz abgesehen davon sind die Grünen in der Koalitionsfrage tief gespalten. Die „Fundis“ können sich schwarz-grüne Bündnisse nach wie vor nicht vorstellen. So drängen die eigenen schwachen Umfragezahlen und die Schwäche der Union die Grünen wieder dahin, wo sie schon immer am liebsten standen – an die Seite der SPD.
Nun kann bis zum Wahltag noch viel passieren, innen- wie außenpolitisch. Sollte die SPD sich aber knapp über 30 Prozent halten können, wofür viel spricht, dann hat Martin Schulz nach der Wahl die freie Auswahl: Rot-Rot-Grün oder Rot-Grün-Gelb – aber auf alle Fälle ohne Schwarz. An den Grünen oder der FDP wird eine Kanzlerschaft von Schulz jedenfalls nicht scheitern. Fragt sich nur, wer der Schulz-SPD letzten Endes als Partner lieber ist: Die Linke oder die FDP?