Tichys Einblick
Count up: 108 Tage Nachwahl-Blues

Es „lindnert“ auch in der SPD sehr stark

Der Medientenor wird lauten: „Faule Kompromisse statt eines großen Wurfs“. Klappt die GroKo dagegen nicht, wird es heißen: „Volksparteien unfähig zum Kompromiss“.

Vor 108 Tagen haben wir gewählt. Die 709 Mitglieder des Bundestags haben seitdem nicht allzu viel zu tun. Der geschäftsführenden Regierung steht ein unterbeschäftigtes Parlament gegenüber. Bei CDU/CSU und SPD, den beiden größten Fraktionen, können sich die Abgeordneten noch nicht einmal ihrer Lieblingsbeschäftigung hingeben: „Wer wird was?“ „Und was wird aus mir?“ Denn solange nicht feststeht, wer regiert, wer mit wem regiert oder ob bald gewählt werden muss, sind keine Posten zu besetzen, nicht die Riege der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, kein einziger Ausschussvorsitz und keine Sprecher-Posten. Und so, wie es aussieht, wird das noch eine Weile so weitergehen.

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Heftig beschäftigt sind seit dem 24. September 2017, 18:01 Uhr dagegen die Spitzen von Union, SPD, FDP und Grünen. Die CDU/CSU will in erster Linie regieren; mit wem, ist nicht so wichtig. Die SPD will mal opponieren, mal koalieren, mal tolerieren. Ihr Vorsitzender Martin Schulz hat schon alles dazu gesagt, was man dazu sagen kann – und auch das Gegenteil davon. Und das immer im Brustton der eigenen Unfehlbarkeit. Die FDP wollte eigentlich nie regieren. Umso emsiger ist sie damit beschäftigt, zu erklären, dass sie so gerne regiert hätte, wenn die anderen ihre Forderungen zu mindestens 90 Prozent übernommen hätten. Und die Grünen sind traurig, dass es wieder einmal mit dem Regieren nicht klappt. Doch haben sie alle Hände voll, zu klären, wer sie selbst regiert – an der Spitze von Partei und Fraktion.

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Auch Zeiten ohne Regierung können lehrreich sein. Bisher ging man als Wähler davon aus, die sich zur Wahl stellenden Parteien wollten möglichst viele Stimmen bekommen, um anschließend mitregieren zu können. Eine Ausnahme bilden da nur Protestparteien, wie es Die Linke war, als sie noch PDS hieß, und wie es ihr Pendant am anderen Rand, die AfD, heute ist. Das war einmal. Als Martin Schulz am Wahlabend verkündete, jetzt gehe die SPD in die Opposition, jubelten die Genossen, als wäre Deutschland gerade Weltmeister geworden. Inzwischen hat die FDP das Nicht-Regieren-Wollen zur höchsten Staatskunst erklärt, geradezu zur staatspolitischen Pflicht. Wie sagte doch Christian Lindner auf dem Dreikönigstreffen: „Wir haben aus staatspolitischer Verantwortung die Oppositionsrolle gewählt und das stärkt unsere Demokratie.“ Wie gut, dass wenigstens einer die Demokratie stärkt. Denn nach der Lindner-Logik  gefährden Parteien wie Union und SPD, die sich um eine halbwegs tragbare Basis für eine Koalition mühen, geradezu unser Gemeinwesen. Aber man darf bei Lindner nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen: Gag first, Politik second.

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Sie hätten so gerne regiert, aber sie können ihre Regierungskunst nicht zeigen – die Grünen. Dafür demonstrieren sie, wohin man mit Genderwahn und Quoteritis kommt. Weil die Doppelspitzen in Partei und Fraktion nach einem Doppel-Quorum (Mann/Frau; Realo/Fundi) besetzt werden müssen, ist für den bisherigen Parteivorsitzenden Cem Özdemir an der Spitze der Bundestagsfraktion kein Platz. Die Grünen glauben, es sich leisten zu können, auf ihren neben dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann angesehensten Politiker einfach verzichten zu können, jedenfalls in der ersten Reihe. Keiner machte und macht sich für Quoten so stark wie die Grünen. Jetzt merken sie selbst, wohin es führt, wenn das Geschlecht wichtiger ist als die Qualifikation. Nun gut, in diesem Fall schaden sich die Grünen selbst. Bei einer Ausdehnung der Frauenquote in der Wirtschaft könnte der Schaden größer werden, und zwar für alle.

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CDU/CSU und SPD haben nach den Vor-Sondierungen mit den Sondierungen begonnen. Am 21. Januar soll ein SPD-Parteitag entscheiden, ob die Genossen auch zu Koalitionsverhandlungen bereit sind. Irgendwie erinnern die beiden ehemals großen Parteien an zwei Boxer, die sich am Ende des Kampfes aneinanderklammern, um nicht umzufallen. Auch so kann man “Steherqualitäten“ beweisen.

Dabei hat es Martin Schulz eindeutig schwerer als Angela Merkel. Die CDU-Vorsitzende ist zwar geschwächt, aber noch lange nicht ausgezählt. Schulz wiederum steht vor einem Dilemma: Kann er die starke Gruppe linker, überwiegend im öffentlich-politischen Komplex bestens versorgter SPD-Funktionäre eher mit einem Nein zur GroKo begeistern? Oder kann er sein Amt retten, indem er – wie schon Sigmar Gabriel 2013 – der CDU/CSU so viele Zugeständnisse abringt, dass die neue GroKo wiederum auf vielen Feldern lupenreine SPD-Politik macht? Offenkundig „lindnert“ es im SPD-Funktionärscorps gewaltig: Lieber nicht regieren, als Verantwortung übernehmen zu müssen.

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Ich war bei „Jamaika“ sehr skeptisch gewesen. Ich bin auch sehr skeptisch, ob es mit einer Neuauflage von Schwarz-Rot klappt. Aber mit Blick auf die zu erwartende Medienlage bin ich mir sicher: Kommt es zur dritten GroKo unter Merkel, wird der Tenor lauten: „Faule Kompromisse statt eines großen Wurfs“. Klappt es dagegen nicht, wird es heißen: „Volksparteien unfähig zum Kompromiss“.

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