Vor 18 Jahren schrieb die damalige CDU-Generalsekretärin Angela Merkel in der F.A.Z. einen mutigen Artikel, in dem sie die Abnabelung vom Übervater Helmut Kohl forderte. Auch heute hält mancher in der CDU einen solchen Abnabelungs-Text für angebracht. Falls sich ein mutiger CDU-Mann oder eine mutige CDU-Politikerin findet. Merkels Nach-Nach-Nachfolger im Amt des Generalsekretärs, #FEDIDWIGUGL-Tauber ist nicht aus dem Holz, um einen solchen Scheidungstext zu schreiben. Wer aber den Mut dazu hätte, bräuchte im Original nicht allzu viel zu verändern. Unser Autor hat sich schon mal die Mühe gemacht, den Merkel-Text von 1999 zu aktualisieren – ohne Auftrag, aber mit mutigen Unionspolitikern im Blick.
Den 25. September 2017 haben viele als den Anfang vom Ende der Ära Merkel bezeichnet. Das war der Tag, an dem Angela Merkel nach den schweren Stimmverlusten der CDU/CSU sagte, sie sehe nicht, „ was wir anders machen sollten.“ Doch sofort hieß es auch, vielleicht liege in dieser schweren Wahlniederlage auch eine Chance – eine Chance auf eine neue schwarz-gelbe-grüne bürgerliche Mehrheit.
So schnell aber kann nur sprechen, wer das volle Ausmaß der Tragik des Wahltags nicht an sich heranlässt – der Tragik für Angela Merkel, der Tragik für die CDU. Was für eine Niederlage am 24. September 2017 – erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde eine Kanzlerpartei vom Wähler so abgestraft. Noch nie hat eine Partei, die den Regierungschef stellt, so herbe Einbußen hinnehmen müssen, wie die CDU/CSU: der Rückgang von 41,5 auf 32,9 Prozent bedeutet den Verlust von einem Fünftel der Wähler.
Die von Merkel eingeschlagene Politik hat der Partei Schaden zugefügt. Nicht nur haben sich Mitglieder und Wähler abgewendet. Zugleich ist auch rechts von der Union das entstanden, was Franz Josef Strauß und Helmut Kohl stets zu verhindern gewusst hatten – eine demokratisch legitimierte neue Partei. Das war nicht nur das Ergebnis einer falschen „Flüchtlingspolitik”. Dazu haben der von Merkel forcierte Modernisierungskurs der CDU sowie die vielen Zugeständnisse gegenüber der SPD in zwei Großen Koalitionen ebenso beigetragen. Es geht um die Glaubwürdigkeit Merkels, es geht um die Glaubwürdigkeit der CDU, es geht um die Glaubwürdigkeit politischer Parteien insgesamt.
Merkel hat der Partei gedient. 17 Jahre war sie Parteivorsitzende, das ist die drittlängste Zeit nach Kohl und Adenauer. In vier Bundestagswahlen wurde die CDU/CSU mit ihr als Spitzenkandidatin stärkste Fraktion. Dennoch reicht es jetzt nicht mehr für eine zukunftsversprechende Koalition – nicht mehr für Merkel und nicht mehr für die CDU.
Spätestens jetzt ist klar, nichts würde mehr so sein, wie es war. Die Zeit der Parteivorsitzenden Merkel ist unwiederbringlich vorüber. Nie wieder wird sie die CDU als Kanzlerkandidatin in eine Bundestagswahl führen können. Seither wird von ihren Leistungen in der Vergangenheit gesprochen – von der Sanierung der Bundesrepublik nach dem finanziellen Desaster von Rot-Grün, von der Überwindung der Finanz- und Wirtschaftskrise, vom Zusammenhalten der EU in schwierigen Zeiten, von der mächtigsten Politikerin Europas.
Viele Menschen – in der Partei zumal – vertrauen Angela Merkel. Die siebzehn Jahre der Parteivorsitzenden Merkel werden mit dem Verweis auf die 32,9 Prozent vom 24. September 2017 mit Sicherheit nicht ausreichend beschrieben. Das reicht vielleicht für ein paar Redakteure, nicht aber für ein Mitglied der Gemeinschaft CDU. Wir haben ganz andere Erfahrungen mit und Erinnerungen an Angela Merkel. Die Partei hat eine Seele. Deshalb kann es für uns nicht die Alternative „Schuldzuweisungen“ oder „das Erbe bewahren“ geben. Wenn es um das Bild Angela Merkels, um ihre Leistungen und um die CDU geht, gehören beide zusammen. Denn nur auf einem wahren Fundament kann ein richtiges historisches Bild entstehen. Nur auf einem wahren Fundament kann die Zukunft aufgebaut werden.
Diese Erkenntnis muss Angela Merkel, muss die CDU für sich annehmen. Und nur so wird es der Partei im Übrigen auch gelingen, nicht immer bei jeder neuen Schwierigkeit für die Bildung einer stabilen Regierung angreifbar zu werden, sondern aus dem Schussfeld auch derjenigen zu geraten, die die eingetrete Lage in Wahrheit nur nutzen wollen, um die CDU Deutschlands kaputtzumachen.
Vielleicht ist es nach einem so langen politischen Leben, wie Angela Merkel es geführt hat, wirklich zu viel verlangt, von heute auf morgen alle Ämter niederzulegen, sich völlig aus der Politik zurückzuziehen und den Nachfolgern, den Jüngeren, das Feld schnell ganz zu überlassen. Und deshalb liegt es auch weniger an Angela Merkel als an uns, die wir jetzt in der Partei Verantwortung haben, wie wir die neue Zeit angehen. Wir kommen nicht umhin, unsere Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft auch ohne ihre bisherige Frontfrau den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen. Sie muss sich wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen, eigene Wege gehen und wird trotzdem immer zu der stehen, die sie seit 2000 ganz nachhaltig geprägt hat – vielleicht später sogar wieder mehr als heute.
Ein solcher Prozess geht nicht ohne Wunden, ohne Verletzungen. Wie wir in der Partei aber damit umgehen, ob wir dieses scheinbar Undenkbare als Treuebruch verteufeln oder als notwendige, fließende Weiterentwicklung nicht erst seit 24. September 2017 begreifen, das wird über unsere Chancen bei den nächsten Wahlen in den Ländern und im Bund entscheiden. Ausweichen können wir diesem Prozess ohnehin nicht, und Angela Merkel wäre im Übrigen sicher die Erste, der dies verstünde.
Wenn wir diesen Prozess annehmen, wird unsere Partei sich verändert haben, aber sie wird in ihrem Kern noch dieselbe bleiben – mit großartigen Grundwerten, mit selbstbewussten Mitgliedern, mit einer stolzen Tradition, mit einer Mischung aus Bewahrenswertem und neuen Erfahrungen nach der Ära der Parteivorsitzenden Angela Merkel – und mit einem Entwurf für die Zukunft.
(Ursprungstext: Angela Merkel, „Die von Helmut Kohl eingeräumten Vorgänge haben der Partei Schaden zugefügt“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Dezember 1999, S. 2.)
Dieser Beitrag ist auch bei Cicero erschienen.