Die SPD weiß nicht, was sie will. Regieren oder nicht regieren? Diese Frage spaltet die Partei. Sie spaltet sogar manchen unter den führenden Genossen. Denken wir an Ralf Stegner oder Malu Dreyer. Die beiden Schulz-Stellvertreter wollen gelobt werden für das, was sie bei den Sondierungen im Sinne der SPD herausgeholt haben – und das ist ziemlich viel. Und sie wollen von der No-GroKo-Fraktion in der Partei dafür gefeiert werden, dass sie die Ergebnisse – ihre Ergebnisse – in Frage stellen. Ein klarer Fall von politischer Schizophrenie.
Die GroKo-Gegner in der SPD bringen viele Argumente gegen eine Neuauflage von Schwarz-Rot vor. Manches klingt gut – aber kaum eines ist logisch. Hier eine Auflistung dieses Wortgeklingels.
NoGroKo-Argument Nr. 1: Die Große Koalition wurde abgewählt
Was für ein Unsinn! Ja, SPD und CDU/CSU haben zusammen 14 Prozentpunkte verloren. Aber sie haben nach wie vor eine parlamentarische Mehrheit. Für Polit-Dummys: Abgewählt wurden die Regierungen Kohl/Kinkel 1998 und Schröder/Fischer 2005. Wer aber trotz großer Verluste weiterhin die Mehrheit hat und folglich regieren kann wie Merkel/Gabriel, ist abgestraft – aber nicht abgewählt.
NoGroKo-Argument Nr. 2: Merkel muss weg
Der Meinung kann man sein. Da treffen sich wutschnaubende Jusos mit vor Zorn bebenden AfD-Fans. Aus sozialdemokratischer Sicht droht der SPD unter einer wiedergewählten Kanzlerin Merkel der Abstieg in die Bedeutungslosigkeit. Nur kann von den Genossen keiner erklären, warum die angeblich abgewirtschaftete, konzeptions- und antriebslose Merkel immer noch stark genug ist, politische Lichtgestalten vom Kaliber eines Martin Schulz oder Ralf Stegners wie blutige Amateure aussehen zu lassen.
NoGroKo-Argument Nr. 3: AfD darf nicht Oppositionsführerin werden
Oppositionsführer? Eine Kopfgeburt aus dem Treibhaus Berlin, bis vor kurzem nur Polit-Insidern bekannt. In den letzten vier Jahren war Die Linke die stärkste Oppositionspartei, durfte bei großen Debatten den ersten Redner stellen und im Haushaltsausschuss den Vorsitz übernehmen. Und? Die Welt ist nicht untergegangen, nicht einmal die Berliner Republik.
NoGroKo-Argument Nr. 4: Kein großer Wurf zu erwarten
Nein, die Sondierungsergebnisse versprechen keinen großen Aufbruch wie 1969 unter der Überschrift „Mehr Demokratie wagen“, auch keine Reformoffensive wie beim Start von Rot-Grün im Jahr 1998. Doch aus drei sehr verschiedenen Puzzle-Spielen – schwarz, weiß-blau, rot – läßt sich kein Meisterwerk zusammensetzen. Das klappt, wenn überhaupt, nur bei Zweier-Koalitionen alten Stils, also mit Parteien desselben Lagers. Solchen Konstellationen mag man nachtrauern, aber im Sechs-Fraktionen-Bundestag sind sie nicht mehr möglich.
NoGroKo-Argument Nr. 5: Keine Bürgerversicherung, keine Steuererhöhungen, kein unbegrenzter Zuzug
Irgendwie scheinen viele Genossen den Schuss noch immer nicht gehört zu haben: Mit 20,5 Prozent blieb die SPD am 24. September 30 Punkte unter der absoluten Mehrheit. Wer mit 20 Prozent 60 Prozent seiner Forderungen durchsetzen kann oder könnte, sollte nicht jammern, dass es „nur“ 60 Prozent sind. Die CDU/CSU hat, wie schon 2013, der SPD erhebliche Zugeständnisse gemacht. Und die SPD verfällt in einen sich selbst bemitleidenden Jammermodus. Wie heißt es bei Marx: Jedem nach seinen Bedürfnissen, jedem nach seinen Fähigkeiten.
NoGroKo-Argument Nr. 6: Nur in der Opposition kann sich die SPD erneuern
Es ist eine unter Funktionären beliebte Leier: sich in der Opposition erneuern. So, als wären vier Jahre ohne Gestaltungsmacht ein Jungbrunnen, dem man als Superman entsteigt. Nun ja, nach vier Jahren Schwarz-Gelb kam die SPD 2013 auf 25,7 Prozent – nach 23 Prozent 2009. Das reichte für was? Zum Juniorpartner der GroKo. Mit der Erneuerung ist das nämlich so eine Sache. Giulio Andreotti, einer der mächtigsten Politiker Italiens, sagte einmal: Macht nutzt ab – vor allem den, der sie nicht hat. Ob die NoGroKo-Fraktion innerhalb der SPD den römischen Fuchs unbedingt bestätigen will?
Ganz abgesehen davon: Laut Grundgesetz wirken die Parteien an der politischen Willensbildung mit. Von einem Vorrang der Selbsterneuerung oder Selbstbeschäftigung von Parteien ist in der Verfassung nicht die Rede.
FAZIT: Der SPD-Sonderparteitag am kommenden Sonntag wird eine Entscheidung treffen, die für die SPD schicksalhaft sein kann. Er findet in Bonn statt, also in der Stadt, in der die Sozialdemokraten 1959 mit der Verabschiedung des „Godesberger Programms“ aus ihrer ganz linken Ecke herauskamen, mit den real existierenden Gegebenheiten der Bonner Republik ihren Frieden machten und auf diese Weise im Bund regierungsfähig wurden. Genau zehn Jahre später stellten sie mit Willy Brandt zum ersten Mal den Kanzler, ein historischer Einschnitt. Gut möglich, dass „Bonn 2017“ für eine weitere historische Wendemarke steht: für die Selbstverzwergung der Schulz-Stegner-SPD.