Die Stimmen waren am 24. September kurz nach 18 Uhr noch nicht ausgezählt, da ließ die SPD ihre Wähler und die gesamte Öffentlichkeit wissen: Ihr habt uns ein so schlechtes Ergebnis beschert, dass wir uns für nichts und niemanden mehr verantwortlich fühlen. Deshalb gehen wir in die Opposition. Macht euren Dreck alleene. Basta.
Seitdem intonieren alle SPD-Größen dieselbe Melodie. Die 20,5 Prozent waren eine Absage an die Große Koalition. Deshalb werden wir auf keinen Fall eine neue eingehen. Opposition ist nicht mehr Mist, wie einst Franz Müntefering meinte, sondern sozusagen die Krönung parteipolitischer Existenz. Mit uns zieht die neue Zeit: Erst die Partei, dann der Staat.
Natürlich kann keine Partei gezwungen werden, in eine Regierung einzutreten, Verantwortung zu übernehmen, gegebenenfalls auch die Prügel für unpopuläre, aber unumgängliche Entscheidungen einzustecken. Auch reine Protestparteien wirken an der politischen Willensbildung mit und erfüllen insofern einen Auftrag des Grundgesetzes.
Ja, die GroKo ist vom Wähler nicht bestätigt worden. Der Anteil der drei Parteien CDU, SPD und CSU ist von 67 Prozent im Jahr 2013 auf 53 Prozent geschrumpft. Gleichwohl: Auch jetzt verfügt Schwarz-Rot noch deutlich über mehr als die Hälfte der Sitze. Dass die GroKo also kein Mandat mehr hätte, stimmt einfach nicht.
Die Kanzlerin sei „die größte Verliererin“, fauchte er am Wahlabend in der Elefantenrunde. Das stimmt sogar: Der Rückgang der CDU/CSU von 41,5 auf 32,9 Prozent entspricht einem Minus von 8,6 Prozentpunkten oder 20,7 Prozent. Bei der SPD führt der Rückgang von 25,7 auf 20,5 Prozent zu einem Minus von 20,2 Prozent. Schulz hat also recht: Die Union hat noch etwas mehr verloren als seine eigene Partei.
Doch Schulz‘ Schlussfolgerung ist nicht nachvollziehbar. Weil die Sozialdemokraten 20,2 Prozent eingebüßt haben, haben sie angeblich kein Regierungsmandat mehr. Die CDU/CSU hingegen mit einem etwas größeren Minus von 20,7 Prozent soll und muss regieren? Wo bleibt da die Logik, Herr Schulz?
Irgendwie scheint die SPD selbst zu spüren, dass ihre Begründung, warum sie sich einfach vom Acker macht, nicht sehr glaubwürdig ist. Also wird der Vorrang der Protest-Politik vor der Verantwortungs-Politik staatspolitisch verbrämt. Es gelte, die AfD als „Oppositionsführerin“ zu verhindern. Denn sollten Union und SPD abermals koalieren, käme diese Rolle der AfD als drittstärkster Kraft zu.
Die Geschäftsordnung kennt keinen Oppositionsführer
Das Problem ist nur: Die Geschäftsordnung des Parlaments kennt eine besondere Rolle der „Oppositionsführerin“ gar nicht. Redezeiten und Ausschussvorsitze werden strikt nach der Größe der Fraktionen vergeben, ganz gleich, ob eine Fraktion die Regierung stützt oder gegen sie opponiert. Wer stärkste Oppositionsfraktion ist, macht sich vor allem in der Reihenfolge der Redner bemerkbar. Auf eine Rede des Kanzlers oder der Kanzlerin darf die stärkste Oppositionsfraktion zuerst antworten; sie darf bestimmte Debatten auch eröffnen. Das bekommt außerhalb des Parlaments jedoch kaum jemand mit. Was in den Fernsehnachrichten aus dem Parlament gesendet und was in den Zeitungen berichtet wird, bestimmt sich nie nach der Reihenfolge der Redner.
„Oppositionsführer“, das ist in gewisser Weise eine Erfindung von Gregor Gysi. Als die Linke vor vier Jahren erstmals einen Sitz mehr hatte als die Grünen, rief sich der große Taktiker Gysi zum Oppositionsführer aus. Er füllte diese Rolle auch aus. Aber nicht dank seines Status, sondern weil er einer der besten Redner unter der Reichstagskuppel war und ist. Seine beiden Nachfolger an der Spitze der Linke-Fraktion, Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch, fielen da weniger auf – auch wenn sie gelegentlich direkt auf Angela Merkel antworten konnten.
Da mögen Martin Schulz und Genossen erzählen, was sie wollen: Ihr Drang in die Opposition ist eine Flucht aus der Verantwortung. Mit dem Kampf gegen „die Nazis“, wie Schulz die Auseinandersetzung mit der AfD nennt, hat das nichts zu tun. Der gescheiterte Kanzlerkandidat Schulz will seine Position als SPD-Vorsitzender retten. Sein Dreiklang lautet so: Erstens die Person, zweitens die Partei, drittens das Land. Das sind neue Töne. Man könnte auch im neuen SPD-Sound sagen: Das Land bekommt eins „in die Fresse“.