Es ist die Zeit der Rückblicke. Vor einem Jahr, Ende August 2015, verkündete die Bundeskanzlerin ihr berühmtes „Wir schaffen das“. Und fügte hinzu: „Und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden.“ Ein paar Tage später, am 4. September, öffnete sie im Alleingang die Grenzen. Jetzt, ein Jahr später, wird in den Medien allenthalben Bilanz gezogen. Die fällt meist zwiespältig aus. So auch am Wochenende, als die Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) ihre „Lehren aus der Flüchtlingskrise“ veröffentlichte. Es war eine sehr nüchterne, negative Bilanz. Hier ein paar Kernsätze aus der FAS-Analyse:
- „Es geht nicht ohne Grenzen: (…) Die Freizügigkeit von Personen ist eine Errungenschaft innerhalb der Europäischen Union, ansonsten gilt: Kriegs- und Terrorflüchtlinge brauchen Schutz, Asyl garantiert das Grundgesetz in Deutschland. Milliarden Menschen einzuladen, sich aufzumachen in ein angenehmeres Leben, ist eine andere Sache. So verweist der Historiker Heinrich August Winkler auf eine deutsche Lebenslüge, zu glauben ‚wir seien berufen, gegebenenfalls im Alleingang, weltweit das Gute zu verwirklichen.'“
- „Nicht jeder kommt in guter Absicht: Die Erkenntnis ist trivial, trotzdem politisch nicht korrekt: Nicht jeder Fremde, der nach Deutschland einreist, kommt in freundlicher Absicht. Jede größere Gruppe Menschen hat ihren Anteil an Lumpen, Faulenzern, Kriminellen. Die statistische Normalverteilung gilt unabhängig von der Herkunft, also auch für Flüchtlinge. Logisch also, dass unter einer Million Zuwanderern auch Ganoven und Gewalttäter sind – und leider auch zu allem entschlossene Terroristen.“
- „Berichten was ist: Es ist leider wahr: In der Flüchtlingskrise haben sich manche Medien um Kopf und Kragen geschrieben und gesendet. Allen Ernstes wurde im Überschwang der Willkommenskultur verlangt, nicht mehr zu berichten, was ist, sondern für die gute Sache zu missionieren, also die Tatsachen zu schönen, da die Wirklichkeit dem dummen, unaufgeklärten Volk nicht zuzumuten sei. Früher nannte man das Propaganda. Und die geht am Ende immer nach hinten los.“
Das kann man alles unterschreiben. Dennoch stockt man beim Lesen. Was die FAS da verkündet, war nicht immer die Meinung des Blattes. Im Gegenteil: Auch die FAS war vor einem Jahr Teil der Willkommens-Presse. Dieselbe Redaktion, die sich jetzt von den Jubelchören des Sommers 2015 abzusetzen versucht, hatte vor einem Jahr genau zu diesen gehört. In ihrer Ausgabe vom 30. August 2015 (!) forderte die Zeitung auf Seite 1: „Roter Teppich für Migranten!“. Und begründete das im Wirtschaftsteil auf zwei Seiten. Einleitend hieß es: „Deutschland reagiert mit Panik auf die Einwanderer. Dabei sollten wir ihnen den roten Teppich ausrollen: nicht (nur) aus moralischen, sondern vor allem aus egoistischen Gründen.“
Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung stand damals ganz auf der Seite all der „großen“ deutschen Manager, die die Kanzlerin verbal unterstützten: Je mehr Flüchtlinge, umso besser; Flüchtlinge als Fachkräfte von morgen; Flüchtlinge als Baumeister am neuen deutschen Wirtschaftswunder. Dass dieselben Bosse heute nur eine lächerlich kleine Zahl von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen für Flüchtlinge anbieten, entlarvt ihre damalige Blauäugigkeit. Oder war es nur das Bemühen, als „guter Kapitalist“ im Mainstream mitzuschwimmen?
Die FAS jedenfalls ist mitgeschwommen. Menschen, die ihre Heimat verlassen haben, existierten nur in zwei Versionen, klagte die Zeitung: „als humanitärer Bedürfnisfall in Form von ‚echten‘ Flüchtlingen aus Bürgerkriegsländern wie Syrien und dem Irak, um die es sich möglichst aufopferungsvoll zu kümmern gilt; und als ‚illegale Einwanderer‘ aus vorgeblich sicheren Herkunftsländern, die es abzuschieben oder vorher abzuschrecken gilt. In beiden Fällen gelten die Neuankömmlinge nicht als Chance für Deutschland, sondern als Problem. Anstatt herauszufinden, wie sich ihre Pläne und Hoffnungen langfristig mit den Interessen der hiesigen Gesellschaft in Einklang bringen lassen, konzentriert sich die Debatte über den ‚Ansturm‘ auf die Gewalttaten randalierender Neonazis und die Überforderung der aufnehmenden Kommunen.“ Die Aussage aus der aktuellen Ausgabe, „Logisch also, dass unter einer Million Zuwanderern auch Ganoven und Gewalttäter sind“, wäre vor einem Jahr wohl nicht gedruckt worden.
Auch Grenzen, die eine unkontrollierte und ungesteuerte Zuwanderung verhindern, waren vor einem Jahr aus FAS-Perspektive eher eine Wachstumsbremse. Sie schrieb: „Wer den Wohlstand der Nationen vorantreiben will, sollte die Grenzen nicht nur für Waren und Dienstleistungen öffnen, sondern auch für Menschen. Sie werden dann von selbst dorthin gehen, wo sie ihre Talente am produktivsten nutzen können – nicht nur, aber auch wegen der höheren Einkommen, die ihnen dann winken. Offene Grenzen wären ein sinnvolleres Mittel zur Armutsbekämpfung als die Entwicklungshilfe, mit der Europas Politiker die aktuellen Wanderungsbewegungen eindämmen wollen.“
Ja, das alles stand vor knapp einem Jahr so in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. In jener Zeitung also, die jetzt eine ganz andere, negative Bilanz der deutschen Flüchtlingspolitik aufmacht. Journalisten, auch solche in Frankfurt, messen Politiker gerne an früheren Aussagen und haben eine diebische Freude, Widersprüche zwischen damals und heute aufzuzeigen. Die FAS-Wirtschaftsredaktion hält es in der Flüchtlingsdebatte dagegen eher mit Adenauer: Was kümmern uns unsere Thesen von gestern? Dabei trifft auch auf die FAS zu, was sie jetzt anderen vorhält: „Es ist leider wahr: In der Flüchtlingskrise haben sich manche Medien um Kopf und Kragen geschrieben und gesendet.“