Es ist unübersehbar: Im neuen Bundestag spiegeln sich die politischen Strömungen dieses Landes genauer wider als im alten. Die AfD vertritt den nicht unbeträchtlichen Teil an Wählern, denen CDU und CSU nicht „rechts“ genug sind. Mit der FDP haben auch Liberale und überzeugte Marktwirtschaftler wieder eine parlamentarische Vertretung. Das beweist: Die vielgeschmähten „etablierten“ Parteien sind gar nicht stark genug, neue Konkurrenten zu verhindern. Unser politisches System, unsere parlamentarische Demokratie funktioniert.
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In konstituierenden Sitzungen eines neu gewählten Parlaments wird traditionell das hohe Lied auf den Parlamentarismus angestimmt. Der neue Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sprach vom Bundestag als „Herz der Demokratie“. Alterspräsident Hermann Otto Solms wies zu Recht darauf hin, dass alle Abgeordneten „das gleiche Mandat“ hätten. Das wirkte aber nicht sehr glaubwürdig. Schließlich konnte Solms die Sitzung nur eröffnen, weil der alte Bundestag die Geschäftsordnung so geändert hatte, dass nicht der älteste unter den 709 MdBs, ein Mitglied der AfD-Fraktion, diese Aufgabe übernehmen konnte. Diese „Lex AfD“ gehört nicht zu den Glanztaten des alten Bundestags.
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Ebenfalls keine Glanztat des Parlaments war es, dass es sich nicht auf ein Wahlrecht einigen konnte, das eine Aufblähung des Bundestags von den vorgesehenen 598 Sitzen auf mehr als 700 verhindert hätte. Die Ovationen, mit denen die Parlamentarier den bisherigen Parlamentspräsidenten Norbert Lammert feierten, waren nicht ehrlich. Lammerts Bemühungen, den Bundestag auf maximal 630 Abgeordnete zu begrenzen, waren im Sommer von SPD, Grünen und Linken aus parteitaktischem Kalkül torpediert worden. Jetzt ist das Parlament größer denn je; arbeitsfähiger und effizienter ist es dadurch sicher nicht.
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Die Vergrößerung des Parlaments kostet den Steuerzahler rund 300 Millionen Euro. Wer da gleich Skandal und Verschwendung ruft, sollte eines bedenken: Das teuerste politische System ist die Diktatur. Die kostet nämlich die Freiheit. Was sind dagegen 300 Millionen?
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Die wichtigste Aufgabe des Bundestags in seiner ersten Sitzung ist es, den Parlamentspräsidenten und seine Stellvertreter zu wählen. Hier versuchten CDU/CSU und SPD erst gar nicht zu tricksen. Anders als 1983 beim Einzug der Grünen gestanden sie den Neuen einen Vizeposten zu. Doch ließen sie den von der AfD nominierten Albrecht Glaser, Ex-Stadtkämmerer von Frankfurt und Ex-CDU-Mitglied, gleich drei Mal durchfallen. Die Begründung: Union, SPD, Grüne und Linke halten Glaser für nicht wählbar, weil er der Ansicht ist, der Islam könne sich nicht auf die im Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit berufen.
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Nun hat jede Fraktion Anspruch auf einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin. Die werden aber nicht von den Fraktionen bestimmt, sondern nur nominiert. Gewählt werden müssen sie vom Bundestag. Und kein Abgeordneter ist verpflichtet, den Nominierten seine Stimme zu geben. Das zeigt sich auch an den Wahlergebnissen der Gewählten: Der CSU-Mann Hans-Peter Friedrichs erzielte mit 507 Stimmen das beste Ergebnis, der in der eigenen Fraktion umstrittene Thomas Oppermann von der SPD mit 396 das schlechteste. Glaser bekam 115 Stimmen im ersten, 123 im zweiten und 114 im dritten Wahlgang – bei 92 AfD-Abgeordneten.
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Das Parlament ist auch mit nur 5 Vizepräsidenten arbeitsfähig. Jetzt muss die AfD entscheiden, ob sie an Glaser festhält. Dann könnte es in ein paar Wochen zu einem neuen Wahlgang kommen. Oder die AfD schickt einen anderen Bewerber ins Rennen. Auch wenn die „Altparteien“ der AfD gezeigt haben, dass sie nicht willkommen ist, so haben sie der neuen Rechten doch einen Gefallen getan: Die AfD kann und wird sich als „Opfer der Etablierten“ inszenieren. Das dürfte bei ihren Wählern sogar gut ankommen.
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Allerdings hat sich die AfD selbst nicht sonderlich klug verhalten. Sie hatte am Tag vor der ersten Sitzung verkündet, sie werde Wolfgang Schäuble geschlossen die Stimme verweigern. Das war natürlich eine verquere Botschaft: „Wir erwarten von Euch, dass Ihr unseren Glaser wählt. Aber Euren Schäuble wählen wir auf keinen Fall.“ So funktioniert überfraktionelles Geben und Nehmen mit Sicherheit nicht. Da merkte man, dass in der ganzen AfD-Fraktion nur ein einziges Mitglied mit Bundestagserfahrung sitzt.
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Wie sich wohl Martin Schulz bei seiner ersten Bundestagssitzung gefühlt hat? Als Kanzlerkandidat ist er krachend gescheitert. Seine Fraktion wollte ihn auch nicht als Oppositionsführer; das ist nun Andrea Nahles. Auch bei seinen Personalentscheidungen im Willy-Brandt-Haus hat er keine glückliche Hand. Noch ist Schulz SPD-Vorsitzender. Fragt sich nur, wie lange noch. Bezeichnend für die schlechte Stimmung unter den Spitzengenossen: Nahles und Schulz saßen nebeneinander in der ersten Reihe, wechselten während der Sitzung aber kaum ein Wort.
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Der Einzug der AfD in den Bundestag stellt eine Zäsur dar, vergleichbar dem der Grünen im Jahr 1983. Die waren durch das von den anderen Parteien vernachlässigte Thema Ökologie groß geworden. Die AfD dagegen wäre nicht so stark, wenn CDU/CSU und SPD nicht verdrängt hätten, dass der unkontrollierte Zustrom aus anderen Kulturkreisen in der Bevölkerung mehr Sorgen ausgelöst hat, als das offizielle Berlin wahrhaben wollte.
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Bei verschiedenen Geschäftsordnungsdebatten zeigte sich die Mehrheit von Schwarz-Gelb-Grün. Rot-Rot-Blau – also SPD, Linke und AfD – wurden überstimmt. Es gab auch eine Konstellation, als SPD und AfD gemeinsam abstimmten und von „Jamaika“ plus Linken überstimmt wurden. Das neugewählte Parlament ist eben anders als das alte. Ob es auch besser ist, wird sich noch zeigen.