Das ist nichts Neues: Jeden Tag wird eine neue Sau durchs Medien-Dorf gejagt. Manchmal auch dieselbe „Sau“ mehrere Tage hintereinander; das nennt man dann Kampagne. Manchmal ist das, womit die Medien sich selbst in einen Erregungszustand versetzen und dasselbe mit dem Publikum tun wollen, aber nichts anderes als eine wilde Spekulation – sozusagen eine virtuelle Sau.
Berichte ohne Grundlagen
Eine solche Phantom-Debatte haben wir gerade erlebt. Mehr oder weniger alle Medien – unseriöse wie seriöse – wussten zu „berichten“, dass es ohne eine verbindliche, zahlenmäßige Obergrenze für Flüchtlinge zum großen Krach zwischen CSU und CDU kommen werde. Stichtag für das angebliche Ultimatum: Allerheiligen. Und fast alle wussten, besser: gaben vor zu wissen, dass CSU-Chef Horst Seehofer die Fraktionsgemeinschaft aufkündigen, die CSU-Minister aus dem Kabinett abziehen und als Gegenschlag die CDU in Bayern einmarschieren werde.
Doch die virtuelle Sau entpuppte sich als Phantom. Die erste Sitzung der CDU/CSU-Fraktion nach Allerheiligen geriet zur Harmonie-Veranstaltung. Seehofer saß neben Angela Merkel am Vorstandstisch und beide betonten, wie einig man sich sei. Das konnten sie auch. Immerhin hat die CSU durchgesetzt, dass CDU und CSU sich gemeinsam für Transitzonen stark machen und die Kanzlerin die Forderung nach einer „Reduzierung“ der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge als gemeinsames Ziel unterschrieben hat.
Viel Lärm um Nichts? Genauso ist es. Denn alle Spekulationen über einen von der CSU herbeigeführten Bruch zeugen zwar von der Fantasie vieler Journalisten, aber auch von einer erschreckenden Realitätsferne. Denn die CSU hätte von dem großen Bruch nur eines gehabt: viele Nachteile.
Eine Aufkündigung der Fraktionsgemeinschaft hätte keineswegs die Große Koalition platzen lassen. Derzeit verfügt Schwarz-Rot über 503 der 630 Sitze im Bundestag. Ohne die 56 CSU-Abgeordneten hätte die CDU/SPD mit 447 Sitzen immer noch deutlich mehr als die benötigten 316 für die „Kanzlermehrheit“. CDU und SPD hätten also bequem weiterregieren können.
Gewinner wäre die SPD
Das wäre aus Sicht der SPD nicht ohne Reiz gewesen, jedenfalls reizvoller als Neuwahlen. Denn die Schnittmenge zwischen SPD und Merkel-CDU ist deutlich größer als die mit der CDU/CSU. Zudem wäre das Gewicht der SPD innerhalb der Regierung gewachsen. Von den drei frei werdenden CSU-Ministerien hätte die SPD mindestens eines, wenn nicht sogar zwei erhalten. Ein Ausscheren der CSU hätte die SPD gestärkt – und das ganz ohne Wahlen.
Für die CSU hätte das Vielerlei bedeutet, nur nichts Gutes. Die bayerische Union wäre von Stund‘ an ohne Einfluss in Berlin gewesen. Vor allem hätte sie als kleinste Oppositionspartei neben Linken und Grünen nicht mehr das tun können, was einen Teil ihrer Stärke in Bayern ausmacht: Sie hätte für das eigene Land beim Bund nicht so viel herausschlagen können wie jetzt. Ein Bau- und Verkehrsminister und ein Landwirtschaftsminister ohne CSU-Parteibuch hätten genau das Gegenteil von dem getan, was die derzeitigen CSU-Minister machen: möglichst viel aus ihren Etats in bayerische Projekte fließen zu lassen. Als Oppositionspartei wäre die CSU die große Verliererin gewesen – weniger Macht und weniger Mittel für Bayern.
Der Doppel-Ausstieg der CSU aus Fraktionsgemeinschaft und Regierung hätte zudem in Bezug auf den ungebremsten Zustrom von Flüchtlingen keinen Effekt gehabt. Die vielen Menschen, die über die Balkanroute nach Europa kommen, wollen „zu Merkel“ oder nach „Germany“. Ob die CSU in Berlin drei Minister stellt, ist den Syrern, Afghanen oder Irakern völlig gleichgültig. Auch ohne eine Regierungspartei CSU wäre kein Flüchtling weniger gekommen, die CSU wiederum hätte überhaupt keinen Einfluss mehr auf die Berliner Flüchtlingspolitik gehabt.
Weil die Lage ist, wie sie ist, und nicht so, wie sie von den Medien gerne dargestellt wird, haben die Schwesterparteien CDU und CSU „Allerheiligen“ unbeschadet überstanden. Wenngleich die CSU seit den Zeiten von Franz Josef Strauß selig bisweilen zu Alleingängen, Kraftmeiereien und Machtspielchen neigt: Ihr Wille zur Teilhabe an der bundespolitischen Macht ist jedenfalls größer, als viele Journalisten dem Publikum weismachen wollen, ihr Pragmatismus ebenfalls. Mögen viele Journalisten in den vergangenen Tage auch ihren Spaß gehabt haben: durchs mediale Dorf getrieben wurde in Wirklichkeit eine leichtgläubige Öffentlichkeit.