Für die Studentenrevolte von vor 50 Jahren steht die Zahl 1968, für eine von antiautoritären Kräften betriebene angebliche Überwindung der muffigen Adenauer-Ära, für mehr Demokratie, mehr Freiheit, mehr Liberalität. Es sind überwiegend Jubelarien, die derzeit zum „50. Geburtstag“ der Achtundsechziger angestimmt werden.
Das ist insofern nicht verwunderlich, weil die meisten Festredner zum Fünfzigsten damals selbst zu den Revoluzzern zählten und folglich heute selig im Glanz des eigenen Beitrags zu den vermeintlich historischen Umwälzungen schwelgen. Nichts fällt eben leichter als Eigenlob – auch bei heute arrivierten, überwiegend in staatsnahen Institutionen beschäftigten und bestens versorgten Alt-Achtundsechzigern.
- Die Demokratie hat überlebt: Die Achtundsechziger kämpften für die Abschaffung des als „repressive Scheindemokratie“ geschmähten pluralistisch-parlamentarischen Systems. Ersetzt werden sollte es durch eine Basis- oder Rätedemokratie, mit deren Hilfe das gesamte Leben demokratisiert werden sollte. Fazit: krachend gescheitert.
- Der „Kapitalismus“ hat überlebt: Die Achtundsechziger hatten dem „kapitalistischen Schweinesystem“ den Kampf angesagt. Der Kapitalismus sollte überwunden werden: durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel, durch umfassende Mitbestimmung der Arbeitnehmer, durch Abschaffung des Privateigentums. Doch die Arbeiter, die Nutznießer der neuen, schönen Wirtschaftswelt, lachten die von der Befreiung des Menschen schwadronierenden Halbakademiker aus. Fazit: krachend gescheitert.
- Es blieb bei Häuptlingen und Indianern: Die Achtundsechziger schwärmten von einer repressionsfreien Gesellschaft, ohne Autoritäten, basisdemokratisch organisiert und ohne jede Form der Fremdbestimmung. Für Repressionsfreiheit konnten sie freilich nicht einmal in den eigenen Reihen sorgen. Ergebnis: krachend gescheitert.
- Der alte Adam ist quicklebendig: Die Achtundsechziger waren überzeugt, ihr Paradies werde den neuen Menschen hervorbringen: antiautoritär, nicht auf Besitz fixiert, durch und durch demokratisch und tolerant, kurz: edel, hilfreich und gut. Die Machtkämpfe in den eigenen Reihen und zwischen diversen kommunistischen, leninistischen, stalinistischen, maoistischen, trotzkistischen Sekten zeigten jedoch: Der alte „Adam“ erwies sich dem neuen Idealisten haushoch überlegen. Ergebnis: krachend gescheitert.
- Uni bleibt Uni: Den Achtundsechzigern ging es im Anfang nicht um die „Weltrevolution“, sondern um ganze banale Anliegen wie eine Studienreform, mehr studentische Mitbestimmung und das Ende der Ordinarien-Herrlichkeit („Unter den Talaren, der Muff von 1000 Jahren“). Ob Drittel-Parität in den Gremien, Mitwirkung der Studenten bei der Berufung von Professoren oder die Zulassung von „kollektiven“ Abschlussarbeiten – recht bald hatten an den Hochschulen die Professoren wieder das Sagen. Ergebnis: krachend gescheitert.
Sexuelle Revolution und Aufarbeitung der Nazi-Zeit
Auch wenn im Nachhinein der leicht verklärte Eindruck entstehen könnte, die Studenten hätten damals massenhaft aufbegehrt, so entspricht das nicht den Tatsachen. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) zählte zu seinen Glanzzeiten gut 4.000 Mitglieder. Der Kern der aktiven „Revolutionäre“ ging nie über eine niedrige fünfstellige Zahl hinaus. Aber dieses Minderheit schaffte es, den öffentlichen Diskurs nachhaltig zu beeinflussen – durch provozierende Aktionen ebenso wie durch das Aufgreifen von Themen, die ohnehin öffentlich diskutiert wurden. Das galt für die Aufarbeitung der Nazi-Zeit wie für die als „sexuelle Revolution“ gefeierte größere Freizügigkeit im Verhältnis der Geschlechter.
Beides – die Beschäftigung mit dem „1000-jährigem Reich“ wie die „freie Liebe“ – werden als große Erfolge der studentischen Revolte verklärt. Es ist jedoch allenfalls die halbe Wahrheit. Oswalt Kolle etwa wurde nicht erst durch ein universitäres „Teach in“ angeregt, für die damalige Zeit ungeheuer freizügige Aufklärungsfilme zu drehen. Kolle spürte einfach, dass es dafür eine riesige Nachfrage gab. Und diesen Bedarf bediente er mit urkapitalistischem „Profitstreben“. Die Nacktfotos aus der berühmten „Kommune I“ waren da nicht mehr als Begleitmusik.
Ebenfalls überbewertet wird der Beitrag der Achtundsechziger zur Beschäftigung der Deutschen mit ihrer Vergangenheitsbewältigung. Der spektakuläre Auschwitz-Prozess fand von 1963 bis 1965 statt und führte der Öffentlichkeit drastisch vor Augen, welch schreckliche Verbrechen von Deutschen im Namen der Deutschen begangen wurden. Nach diesem Prozess war es nicht mehr möglich, die NS-Vergangenheit mehr oder weniger zu verdrängen.
Die Achtundsechziger war dabei eher Trittbrettfahrer. Sie nutzten das geschärfte Bewusstsein für diese schlimme Periode deutscher Geschichte, um ihnen mißliebige Politiker, Professoren und Richter mit deren NS-Vergangenheit zu konfrontieren und bloßzustellen. „Vergangenheitsbewältigung“ wurde somit zur politischen Waffe. Jemand – zu Recht oder nicht – als Nazi zu beschimpften, ersparte jede Auseinandersetzung mit dessen Ansichten und Positionen.
Nein, die Achtundsechziger haben die Welt nicht aus den Angeln gehoben. Das heißt nicht, dass sie nicht doch einiges verändert hätten. Dazu mehr in den beiden Kolumnen „Das Erbe der Achtundsechziger“ und „Die Erblast der Achtundsechziger.“