Nicht nur zwischen CDU und CSU gibt es heftige Spannungen. Auch innerhalb der CDU selbst wird um den richtigen Kurs gestritten, vor allem bei den Themen Zuwanderung und Integration. Das kann bei einer Partei, die sich bewusst als Union verschiedener Strömungen versteht, nicht überraschen. Helmut Kohl, der die Partei geprägt hat wie kein Zweiter seit Konrad Adenauer, hat „seine CDU“ gerne so beschrieben: Sie sei „wie ein indonesisches Hausboot, das die Hauptlast in der Mitte trägt und rechts und links durch Ausleger gestützt wird“. Diese Ausleger müssten „austariert“ bleiben.
An „Auslegern“ herrscht in der CDU kein Mangel. Laut Statut gibt es allein zehn Vereinigungen und Sonderorganisationen: Junge Union, Frauen-Union, Sozialausschüsse, Kommunalpolitische Vereinigung, Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung, Ost- und Mitteldeutsche Vereinigung, Senioren-Union, Evangelischer Arbeitskreis, Ring Christlich-Demokratischer Studenten und Schüler Union. Um das „Hauptboot“ herum herrscht also ein ganz schönes – parteiamtlich gewünschtes – Gedränge.
Seit einiger Zeit versuchen sich zwei weitere „Kleinboote“ hier ebenfalls einzureihen. Der „Berliner Kreis“, ein Zusammenschluss konservativer CDU-Abgeordneter, und die „WerteUnion“, eine Vereinigung von CDU-Mitgliedern, die näher bei Horst Seehofer als bei Angela Merkel stehen. Der „Berliner Kreis“ hatte eine Zeitlang versucht, von der Partei als Gliederung anerkannt zu werden. Das wurde Ende 2013 aber strikt abgelehnt. Was zwei im „Berliner Kreis“ aktive Publizisten, Alexander Gauland und Konrad Adam, dazu bewegte, bei der Gründung der AfD an vorderster Front mitzuwirken.
Seit kurzem gibt es nun noch eine Formation, die „Union der Mitte“. Die unterscheidet sich aber von allen anderen Gruppen und Grüppchen: Sie vertritt nicht dezidiert bestimmte Wählerinteressen, etwa die von Arbeitnehmern oder Unternehmern, von Jungen oder Alten. Die Mitte-Truppe will vielmehr, dass die anderen „Ausleger“ das sozialdemokratisierte „Hauptboot“ auf seinem Kurs nicht stören. Ihre Gegner sind neben dem „Berliner Kreis“ und der „WerteUnion“ auch die Mittelstandsvereinigung, nicht zuletzt die „Schwester“ CSU. Schlechte Umfragezahlen für die Bayern-Union und Spekulationen über mögliche grüne Direktmandate im schwarzen Bayern werden von Mitte-Aktivisten in den „Social Media“ blitzschnell verbreitet. Mit jedem Prozentpunkt weniger für die CSU scheint in der „Mitte“ die Stimmung zu steigen.
CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer versucht das Naheliegende: alle Gruppen in die Arbeit am neuen Grundsatzprogramm einzubinden. Angela Merkel sieht in den neuen Initiativen „eher ein Ausdruck von Lebendigkeit“. Wobei „WerteUnion“ wie „Union der Mitte“ es an Lebendigkeit im Kampf gegen den Partei-„Freund“ nicht fehlen lassen. Aus der „WerteUnion“ wird die Kanzlerin als die „Irre aus der Uckermark“ beschimpft. Die „Union der Mitte“ bekämpft jeden, der das konservative Element in der CDU wieder stärken möchte, als „Rechten“. Auf Twitter verwendet sie gerne das Hashtag „#konservativstattrechts“. Natürlich sehen sich beide Seiten – wie könnte es anders sein – als Vorkämpfer für die wahre Seele der Partei.
Während die „WerteUnion“ eine CDU à la Kohl mit einem einflussreichen konservativen Flügel wiederhaben will, versucht die „Union der Mitte“ die Partei auf dem von Merkel eingeschlagenen Kurs zu halten. Dabei unterscheidet sie zwischen „Rechten“ und „Anständigen“, wobei die Nicht-Anständigen selbstredend die anderen sind. Zugleich nimmt die „Union der Mitte“ mit den Begriffen „Anstand“ und „gegen rechts“ verbale Anleihen beim links-grünen Lager. Mit dem von ihm geforderten „Aufstand der Anständigen“ versuchte Bundeskanzler Gerhard Schröder einst, die CDU in die rechtsradikale Ecke zu drängen. Den „Kampf gegen rechts“ propagieren auch SPD, Linke und Grüne – manchmal Schulter an Schulter mit gewalttätigen „Antifaschisten“ und anderen linksradikalen Splittergruppen. Die Wortwahl ist bezeichnend: „Gegen rechts“ zielt in erster Linie auf Rechtsradikale und Rechtsextreme, auf AfD und NPD, soll aber – implizit – CDU und CSU mit einschließen.
Ungeachtet ihrer vielen Differenzen gibt es bei den Besatzungen der beiden Beiboote „Union der Mitte“ und „WerteUnion“ Ähnlichkeiten: Große, außerhalb von Berlin-Mitte bekannte Namen, fehlen auf beiden Seiten. Auch bieten beide Gruppierungen mehr oder weniger unbekannten CDU-Mitgliedern plötzlich eine Bühne. Noch eine Ähnlichkeit: Beide in herzlicher Abneigung verbundene Formationen beschäftigen sich in ihren Äußerungen so gut wie nie mit dem politischen Gegner, sondern fast ausschließlich mit dem Feind im eigenen Haus. Auffällig ist freilich, dass sich zugunsten der „Mitte“ viele Mitarbeiter von CDU-Ministern und CDU-Staatssekretären äußern. Auf dem „Hauptboot“ wird diese „Basisbewegung“ offenbar wohlwollend begleitet.
Die neue „Lebendigkeit“ in der CDU bedeutet, dass die „Merkelianer“ in der CDU offenbar der Meinung sind, die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende brauche dringend Unterstützung. Die Partei erscheint zerrissen und zerstritten, wie schon lange nicht mehr; ein tiefer Riss trennt „Modernisierer“ und Konservative. Merkel kann sich auch der uneingeschränkten Unterstützung durch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht mehr sicher sein. Deshalb hat sie vor kurzem alles getan, um in der Fraktion eine Abstimmung über Seehofers „Masterplan Migration“ zu verhindern. Die „WerteUnion“ würde Merkel am liebsten sofort ablösen. Die „Union der Mitte“ will sie stärken – und belegt damit, dass die CDU-Vorsitzende und Kanzlerin geschwächt ist.
Der „Ausdruck von Lebendigkeit“ innerhalb der CDU könnte also durchaus zu Eruptionen führen, die das christlich-demokratische Hausboot kräftig durchschütteln.
Man kann in dieser „Lebendigkeit“ auch ein Zeichen für ein weiteres Auseinanderdriften der Partei sehen. Der CDU-Wirtschaftsrat, keine offizielle Parteigliederung, hat den Kampf der „Parteifreunde“ treffend beschrieben: „Diese Zergliederung der CDU ist ein Symptom dafür, dass sie nicht mehr von der Spitze her integriert wird.“