Es gibt immer ein erstes Mal. Die Bundestagsabgeordneten von CDU und CSU gelten im Gegensatz zu ihren sozialdemokratischen Kollegen als nüchterne, an der Macht orientierte Pragmatiker. Hauptsache: „Wir sind Kanzler“. Das galt seit 1949 – bis zum Dienstag, dem 25. September 2018. Da stürzte die Fraktion ihren langjährigen Vorsitzenden Volker Kauder – und beschädigte die CDU-Vorsitzende und Kanzlerin Angela Merkel schwer. Dieser Aufstand der CDU/CSU-Fraktion gegen ihre Führung passt in kein Schema – und das aus sechs Gründen.
Erstens: Ein unorthodoxer Kandidat. Ralf Brinkhaus, der Kauder-Nachfolger, hat sich – anders als Gesundheitsminister Jens Spahn oder der Mittelstand-Anführer Carsten Linnemann – nie als Rebell gegen Merkel in Stellung gebracht. Er bat Merkel sogar, ihn als neuen Vorsitzenden vorzuschlagen, was diese kühl abwies. Also machte er sich auf allein auf den Weg – als krasser Außenseiter.
Zweitens: Eine Rebellion von unten. Brinkhaus hatte keinen einflussreichen Fürsprecher, genoss nicht die Unterstützung einer Landesgruppe oder einer Gruppierung innerhalb der Union. Er war der Kandidat der mit Merkels Kurs Unzufriedenen. Er war der Kandidat derer, die die Fraktion nicht in erster Linie als Helfer der Regierung sehen, sondern als selbstbewusste, eigenständige Kraft. Brinkhaus zog nicht mit einem Team in die Schlacht; die übrigen Positionen im Fraktionsvorstand blieben mehr oder weniger unverändert. Brinkhaus bot sich all denen an, die irgendwie Dampf ablassen wollten – und das war die Mehrheit.
Drittens: Kauder wurde abgestraft – stellvertretend für Merkel und Seehofer. Auf dem Stimmzettel standen nur zwei Namen: Brinkhaus und Kauder. Aber Kauder stand auch für Merkel und Seehofer, die noch vor dem Wahlgang in der Fraktion für ihn warben. Natürlich hat sich Kauder in 13 Jahren an der Spitze der Fraktion und loyaler „Ausputzer“ für Merkel nicht nur Freunde gemacht. Aber abgewählt wurde er, weil eine Mehrheit der Abgeordneten Merkel und Seehofer abstrafen wollten. Sie schlugen Kauder – und trafen die beiden Vorsitzenden. Genau genommen war die Wahl von Brinkhaus ein Misstrauensvotum gegen Merkel.
Viertens: Ein „Aufschrei“ der Basis. Die Bundestagsfraktion hatte zu Merkel immer ein etwas gespaltenes Verhältnis. Sie hat für die Union das Kanzleramt 2005 zurückerobert und seitdem drei Mal verteidigt. Aber die Wahlergebnisse waren – mit Ausnahme von 2013 – bescheiden, zwischen 35,2 und 32,9 Prozent. Vor allem aber hat Merkel die CDU so modernisiert, dass die Konservativen sich allenfalls noch als Geduldete fühlen können. Schließlich hat Merkel mit ihrem Kurs rechts von der Union Platz gemacht für die AfD. Dazu kommt, dass es in der Fraktion bei einer geheimen Abstimmung wohl niemals eine Mehrheit für Merkels „Willkommenspolitik“ gegeben hätte. Schließlich sind die Wirtschafts- und Mittelstandspolitiker, die in der in der Fraktion stärkste Gruppierung, seit langem mit dem wirtschaftspolitischen Kurs Merkels unzufrieden. Spätestens das ungeschickte Taktieren von Merkel und Seehofer im Fall Maaßen brachte das berühmte Fass dann zum Überlaufen – und Merkel/Kauder fehlten ein paar Stimmen.
Fünftens: Die CDU/CSU passt sich der SPD an. Für die Union waren die Gewinnung und Sicherung der Macht immer wichtiger als hehre Programme oder Parteitagsbeschlüsse. Wie unter alten Eheleuten hat sich die Union aber inzwischen der SPD angepasst, scheint irgendwie Gefallen an der Selbstzerstörung zu finden. Wer für Brinkhaus und damit gegen Merkel/Seehofer stimmt, nahm keine Rücksicht auf die eigenen Wahlkämpfer in Hessen und Bayern. Und das, obwohl gerade bürgerliche Wähler nichts mehr verabscheuen als Streit in der eigenen Partei. Markus Söder und Volker Bouffier waren den Brinkhaus-Wählern völlig gleichgültig.
Sechtens: Wahrscheinlich hat der Zufall mitgewählt. Bei aller Unzufriedenheit mit Merkel und Seehofer dürfte auch der „Parteifreund Zufall“ Brinkhaus geholfen haben. Viele Abgeordnete waren entschlossen, der Kanzlerin einen Denkzettel zu verpassen. Ob aber alle, die Brinkhaus ihre Stimme gaben, das auch getan hätten, wenn sie gewusst hätten, dass er auch gewinnt? Das werden wir nie erfahren. Jens Spahn oder Carsten Linnemann dürften wohl an einem guten Brinkhaus-Ergebnis interessiert gewesen sein. Es darf aber bezweifelt werden, dass sie Brinkhaus unbedingt in diese wichtige Position bringen wollten. Aber das ist eben die Crux bei geheimen Wahlen. Man weiß nie, wie sie ausgehen.
Fazit: Die CDU/CSU-Fraktion hat Merkel das Misstrauen ausgesprochen. Sie spielt das als „demokratisches Ergebnis“ herunter. Denn die Alternative hieße Rücktritt.