Knapp 47 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben bei der Bundestagswahl ihre Stimme abgegeben. Sie handelten ganz im Sinne des Artikels 20, Absatz 2 des Grundgesetzes: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (…) ausgeübt.“ Die 709 von den Wählern bestimmten Bundestagsabgeordneten waren alle von Parteien nominiert worden. Auch das entspricht der Verfassung: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“ (Artikel 21). Soweit die Theorie.
Irgendwie passt das Grundgesetz hinsichtlich der Staatsgewalt und der Parteien nicht so recht zur Realität – oder umgekehrt. Wollte man aus dem Sondierungs-Gerangel in Berlin einen neuen Verfassungsgrundsatz ableiten, dann müsste der so heißen: „Alle Staatsgewalt geht von Parteifunktionären aus. Deren Willen wird von frei gewählten Abgeordneten ratifiziert.“ Dass Abgeordnete nicht so einflussreich sind, wie sie das selbst gerne darstellen, ist nichts Neues. Aber noch nie waren sie so machtlos wie seit der Bundestagswahl 2017.
Dass es keinen Sinn macht, Gespräche über mögliche Koalitionen unter Beteiligung aller Abgeordneten der betroffenen Fraktionen zu führen, liegt auf der Hand. Wenn es ernst wird, haben immer einige wenige Spitzenpolitiker das Sagen. Was die ausgehandelt haben, müsste dann aber den Volksvertretern ihrer Parteien zur Billigung vorgelegt werden. Doch ob es zu „Jamaika“ gekommen wäre oder ob es zu einer neuen „GroKo“ kommen sollte, hängt nicht vom Votum der Abgeordneten ab. Das entscheiden letztlich Parteitage oder die Parteimitglieder in ihrer Gesamtheit. Was als Stärkung der innerparteilichen Demokratie gefeiert wird, bedeutet letztlich eine Schwächung der demokratisch gewählten Abgeordneten.
Was läge eigentlich näher, als dass die jeweiligen Fraktionen darüber befänden, ob sie die von ihren Partei- und Fraktionsführungen vereinbarten Verabredungen billigen oder nicht? Schließlich müssen die Abgeordneten in einer Koalition oder Kooperation umsetzen, was vorher ausgehandelt wurde. Aber weil angeblich alles auf die „Basis“ ankommt, sind die Parlamentarier im innerparteilichen Machtgefüge die Unwichtigsten.
Fünf Jahrzehnte nach der Hochzeit der Außerparlamentarischen Opposition mit ihrem Ruf nach einem „imperativen Mandat“ scheint der von der Partei gegängelte Abgeordnete zum Inbegriff demokratischer Willensbildung geworden zu sein: „Partei befiehl, wir folgen.“ Das ist freilich kein sozialdemokratisches Phänomen. Hätte über „Jamaika“ befunden werden müssen, hätten die Grünen und selbst die Lindner-FDP die „Basis“ zu den Urnen gerufen. Sogar die CDU hatte geplant, sich basisdemokratisch zu geben und sich die Zustimmung eines Parteitags einzuholen. Die Achtundsechziger haben auch bei den „etablierten“ Parteien ihre negativen Spuren hinterlassen.
Es ist ein seltsames Schauspiel. Wir werden von einer geschäftsführenden Regierung regiert, die sich bei wichtigen internationalen Entscheidungen enthalten muss. Das Parlament hat kein Arbeitsprogramm und entscheidet, was gerade anliegt, mit Zufallsmehrheit. Und über die künftige Regierung entscheiden Parteifunktionäre und von diesen beeinflusste Parteimitglieder. Die mögen durch innerparteiliche Wahlen und das pünktliche Überweisen von Mitgliedsbeiträgen legitimiert sein – vom Volk haben sie alle kein Mandat.