Die Aktienkultur ist in Deutschland unterentwickelt und ein Verständnis für die Reflexivität des Geschehens in sozialen Systemen – zu denen Märkte gehören – ist schon gar nicht vorhanden. Auch nicht in der Politik, was da gerade wieder an dirigistischen Vorstellungen aus der ordnungspolitischen Mottenkiste sichtbar wird, spottet jeder Beschreibung – man weiß nicht ob man lachen oder weinen soll.
Fundamentales Wissen und das Ego
Selbst aber bei denen, die sich für die Märkte interessieren, dominiert zu oft ein unreflektierter Glaube an fundamentale Daten und Überzeugungen, so als ob man daraus sinnvolle Schlussfolgerungen auf die weitere Entwicklung ziehen könnte. Dummerweise ist das nicht so, denn alles was öffentlich an fundamentalem Wissen und Parametern zu Unternehmen bekannt ist, wurde durch den Markt schon in den Kursen verarbeitet und ist keine Neuigkeit mehr. Fundamentales Wissen verschafft nur dann einen Vorteil, wenn man Insider oder Branchenexperte ist, nur dann also, wenn man wirklich mehr als die Herde weiß. Gute Value-Investoren wie Warren Buffett verschaffen sich diesen fundamentalen Vorsprung mit ganz viel Fleiß, Analysen und Gesprächen mit Insidern und Management – einem normalen Anleger ist dieser Pfad aber hinsichtlich Zeit, Kompetenz und Zugang zu den richtigen Quellen in der Regel verwehrt. Ich habe das vor Jahren in Gedanken zum langfristigen Vermögensaufbau und zum Zerrbild des Value-Investing ausführlich beschrieben.
Es fühlt sich ja aber gut für das Ego an, sich klüger als der Markt zu fühlen und „sicher“ zu „wissen“, dass ja nun dieses oder jenes unmittelbar bevorstehen würde und absolute Werturteile im Sinne „billig“ oder „teuer“ abzugeben. Deshalb ist diese Herangehensweise auch so populär und was populär ist, wird von Medien und Finanzindustrie dann genutzt und monetär abgeschöpft – man muss dem Affen halt Zucker geben. Wer das, wie dieser Artikel in Abrede stellt, kann sich gleich auf heftige Ablehnung gefasst machen.
Der bevorstehende Crash, das Objekt eigener Selbstüberschätzung
So ist auch die Vorhersage des bevorstehende „Crashs“ so ein wunderbares Objekt der eigenen Selbstüberschätzung. Wenn man aktuell außerhalb des engen Kreises echter Börsenexperten die Chance (nicht Sicherheit, nur Chance) auf weitere Gewinne an den Aktienmärkten in Aussicht stellt, ergießt sich über einen ein Schwall skeptischer Stimmen, die einem als „Neuigkeit“ erklären wollen, dass diese Märkte ja „aufgeblasen“, „krank“, „überdehnt“, „ein notenbankinduziertes Kasino“ und was auch immer wären.
Dabei ist diese Erkenntnis doch eine Binsenweisheit und bedarf wirklich keiner Wiederholung mehr. Aus dieser Erkenntnis eine unmittelbare Handlung abzuleiten, kann im reflexiven Markt aber nur dann klug sein, wenn alle Profis und institutionellen Anleger, die den Markt aktuell weiter hoch kaufen, dagegen pure Idioten und Hasardeure sind, die keine Ahnung von der Welt haben. Nun gut, vielleicht ist das ja so, ich würde aber mit einem Schmunzeln nicht darauf wetten.
Die Wahrheit ist, die kritische Beschreibung der Märkte stimmt ja und die meisten Profis teilen diese und haben aktuell auch aufgestellte Nackenhaare, wenn sie den pausenlos immer weiter hochschiebenden Markt sehen. Und trotzdem kann der Markt weiter steigen und über diese Diskrepanz will ich heute mit einem kurzen Beispiel schreiben, vielleicht kann ich dem einen oder anderen ja doch einen entscheidenden Denkanstoß geben.
Denn gehen wir mal zurück zu dem, was ich schon auf TE zum Markt geschrieben habe, so erst vor einem Monat dass der Zins nicht wieder kommt. Begründung war die Zerstörung des Zinses als Risikoindikator durch die Notenbanken und damit die Verbiegung eines ehedem freien Marktes.
Oder lesen Sie, was ich vor über einem Jahr im Sommer 2016 in Katastrophenhausse hier geschrieben habe, nämlich dass dieser Markt noch viel weiter steigen kann, gerade *weil* der Zins manipuliert wird und das Geldsystem wackelt. Damals schriebe ich:
Zitat zur „Katastrophenhausse“ aus dem Sommer 2016
Ich will … nur diese völlig verfehlte Logik durchschlagen, die schon seit Jahren vielen Anlegern einflüstert, dass die Börsen bald fallen müssten, weil die Lage ja so gefährlich sei. Und die seit vielen Jahren verhindert, dass Anleger mitnehmen, was die Börsen zu bieten haben.
Der Markt muss aber gar nichts!
Denn wenn Ludwig von Mises Recht hatte, dann werden die Märkte vielleicht noch viel höher steigen, gerade weil das Vertrauen in die Währung schwindet. Und erst später kommt dann irgendwann der Tag der Abrechnung.
Irgendwann, aber der Tag ist nicht heute.
Und mal ernsthaft, glauben Sie nicht auch, dass die Notenbanken und Staaten, bevor der Tag des geldpolitischen „jüngsten Gerichts“ kommt, nicht noch alles – wirklich alles, im amerikanischen sagt man dazu „everything and the kitchen sink“ – auf den Markt werfen werden, um das Ende hinaus zu zögern? Ich bin da sehr sicher, denn keiner will der sein, der das Licht ausmachen muss.
Denken Sie mal darüber nach, was das für Ihre Anlagestrategie bedeuten würde und ob die Crash-Propheten in so einem Umfeld für Sie aktuell wirklich die richtigen Ratgeber sind.Denn „zu früh“ ist am Aktienmarkt gleichbedeutend mit „Verlust“. Es gibt kein „zu früh“ bei der Geldanlage, es gibt nur Gewinn, Verlust oder die Seitenlinie.
Seitdem sind die Märkte weiter massiv gestiegen, vergleichen Sie mal meine Chartprojektion vom Sommer 2016 mit dem aktuellen Kurs des Leitindex S&P500. Sie sehen, ich bin mir der Verzerrung dieses Marktes und seiner Ursachen mehr als bewusst, das ist doch schon lange Common Sense bei den Profis und wahrlich kalter Kaffee.
Die Märkte können trotzdem oder gerade deswegen weiter steigen
Noch ein Beispiel. Gestern hat Rainer Zitelmann hier den sehr kritischen Artikel Die Finanzkrise ist längst nicht vorbei veröffentlicht und wissen Sie was? Ich teile den Inhalt weitgehend. Sie sehen, ich sehe das „Aufgeblasene“, das „Kranke“, das „Überdehnte“ und das „Kasino“ wie viele der Crash-Propheten. Jetzt kommt aber der Unterschied, der vielen nicht schmecken wird: Die Märkte können trotzdem oder gerade deswegen weiter steigen!
Klar, wenn bestimmte politische Dinge passieren würden, fliegen uns die Schwerkräfte der Eurozone schon in 2018 um die Ohren. Das kann sein, obwohl es wahrscheinlich noch zu früh ist. Vielleicht steigen die Märkte aber die kommenden 5 oder sogar 10 Jahre weiter, denn niemand sollte die Beharrungskräfte der Mächtigen unterschätzen, das Rad um jeden Preis weiter drehen zu lassen und die Blechkanne weiter die Straße herunter zu treten. Im Zweifel würde ich eher auf Letzteres setzen.
Und vielleicht kommt es auch nie zu einem katastrophalen Zusammenbruch, weil die Scherkräfte langsam und stückchenweise auf Kosten der Bürger via „kreativer“ Geldpolitik, Inflation und Steuern abgebaut werden – Macron und die Südländer arbeiten ja kräftig an diesem Modell. Wir sehen doch an den aktuellen, massiven Veränderungen der deutschen Gesellschaft, dass man den Menschen auch Extremes ohne Aufbegehren auferlegen kann, wenn man es nur langsam und stückchenweise tut und die Folgen nicht sofort erlebbar sind. Auch der Frosch springt bekannterweise nicht aus dem heißen Wasser, wenn man es langsam auf Kochtemperatur erhitzt.
Kurz und knapp, das Wissen um die Verbiegung des Marktes durch die Notenbanken hilft uns wenig beim Timing der eigenen Anlageentscheidung, im Gegenteil, die damit verbundenen Ängste vor Krisen halten uns eher davon ab, das rational Gebotene zu tun. Und das ist in der Regel mit dem Trend zu gehen, sprich mit den Wölfen zu heulen, solange der Trend dauert und wenn er bricht, sich ganz profan in die Büsche zu schlagen. Zu früh ist am Markt eben nur ein anderes Wort für falsch.
Amazon, die Mutter aller Trends
Sie sind nicht überzeugt? Ich weiß, diese Wahrheit kann immer nur eine Minderheit akzeptieren. Es gibt ja gute Gründe, warum die Mehrheit an der Börse nicht wirklich auf einen grünen Zweig kommt, worauf die Börse als Selbstschutz dann gerne zum „Kasino“ erklärt wird, wir wissen ja wie das mit dem Fuchs und den zu sauren Trauben ist.
Ich will aber noch einen Versuch machen, nämlich mit Amazon, der Mutter aller Trends. Noch so eine Aktie, die „fundamental“ immer viel zu „teuer“, viel zu „phantastisch bewertet“ und viel zu „irrational“ vom Markt betrachtet wird – sagt der gemeine Börsenfachmann, der KGVs und KBVs für den Nabel der Anlagewelt hält.
Nun kann man ja im Nachhinein immer klug schwätzen, hinterher ist immer alles klar. Tun Sie sich also doch mal den Gefallen und lesen Sie, was ich im Januar 2013, also vor fast 5 Jahren, in Amazon – Die Mutter aller Trends und was wir daraus lernen können geschrieben habe.
Amazon 2013: versiebenfacht seit 2008, KGV bei 164
Zwischen 2008 und 2013 hatte sich die Aktie schon versiebenfacht, das KGV lag bei 164 und das KBV bei 15,6. Eindeutig also „überbewertet“, „in einer Blase“, „irrational“ und so weiter und so fort, wir kennen diese Litanei nun ja, alle die da noch kaufen können doch nur noch Idioten sein. Ich habe das damals ganz anders gesehen und ein paar Grundsätze aufgeschrieben, weswegen es wichtig ist, das noch einmal auf sich wirken zu lassen.
Und jetzt zeige ich Ihnen mit Dank an Finviz für das Chart mal den Kursverlauf von Amazon bis heute, den Januar 2013 habe ich mit einem blauen Kreis markiert. Nun dürfen Sie schlucken:
Amazon 2017: noch einmal verfünffacht seit 2013, KGV bei 280
Die Aktie hat sich seit 2013 also noch einmal verfünffacht. Das KGV ist aktuell bei 280 und das KBV bei 21,7. Welchen Wert haben diese Paramater also für die Frage ob Amazon in fast 5 Jahren steigt oder fällt? Keinen. Null. Nada. Kurse am Markt werden aus Erwartungen an die Zukunft gemacht, nicht aus Fundamentaldaten der Vergangenheit. Das gilt auf jeden Fall für jeden Markt, oder würden Sie einen Stuhl im Möbelhaus kaufen, von dem Sie erwarten, dass er in 2 Wochen billiger ist? Wohl kaum. Wenn Sie aber erwarten, dass er teurer wird (Rabatt – kauf mich jetzt!) dann rennen Sie hin. It´s the Antizipation stupid!
Und es ist ja nicht so, dass diese Entwicklung nicht fundamental unterlegt wäre, der Umsatz von Amazon steigt jedes Jahr um 20-30% und die Phase der hohen Gewinne kommt dann, wenn die Marktdominanz erreicht ist und der Markt preist diese Erwartung heute schon ein. Nein, das sind keine Idioten die da noch kaufen, das sind ganz große institutionelle Anleger mit Research-Abteilungen. Sicher kann und wird diese Entwicklung Amazons nicht endlos gehen und irgendwann gegen eine Decke stoßen, irgendwann kommt das Kartellrecht auch über Amazon. Ob diese Decke aber 2018 oder erst 2025 erreicht wird, lässt sich aus den fundamentalen Daten schlicht nicht ableiten, diese Indikatoren sind für diese Timing-Frage wertlos. Wer danach handelte, hat 2013 statt Amazon dann E.ON und RWE gekauft, die waren da „billig“ – was daraus im Vergleich geworden ist, kann man sich leicht anschauen.
Das Shiller KGV und der Crash der sich immer um ein Jahr verschiebt
Auch bei Amazon gilt also, zu früh auszusteigen ist auch nur ein Wort für falsch. Warum nicht besser darauf warten, bis der Trend wirklich bricht, statt sich immer klüger als der Markt zu wähnen?
Und wenn Sie immer noch nicht überzeugt sind, dann schauen Sie mal, seit wann in den Kreisen der Weltuntergangspropheten auf Basis des Shiller KGV ein Crash prophezeit wird, mindestens seit 2014, eher früher. Robert Shiller will ich davon ausdrücklich ausnehmen, der stellt diesen Indikator nicht als Timing-Indikator dar, auch wenn er seit Jahren schon skeptisch redet und sich erst zuletzt wieder optimistischer äußert, bei dem Markt geht es ja auch nicht anders.
Faktum ist aber, dass dieser Indikator als Timing-Indikator völlig ungeeignet ist, gut geeignet aber als Klick-Generator für Crash-Szenarien, die besonders die gerne lesen, die nun nicht im Markt sind – Selbstbestärkung überlagert eben das unerfreuliche Gefühl einen Fehler gemacht zu haben.
Fazit – Der Markt kann länger irrational bleiben als wir liquide
Die Botschaft dieses Artikels wird vielen von Ihnen nicht schmecken, vielleicht rege ich ja aber doch ein paar von Ihnen zum Nachdenken an und um diese Leser geht es mir. Denken Sie mal darüber nach, ob nicht vielleicht das „nicht schmecken“ gerade für den wahren Kern spricht, denn im reflexiven Markt kann das, was alle wissen und verstehen, rein mathematisch und objektiv nicht zu Gewinnen führen, weil es schon verarbeitet ist.
Meine Botschaft ist klar und eindeutig. Was wir fundamental zum Markt sehen und denken ist legitim und auch oft richtig. Auch die aktuelle Verzerrung des Marktes durch die Notenbanken zu sehen und die damit verbundenen Risiken zu sehen, ist richtig. Daraus aber Anlageentscheidungen für die kommenden Monate abzuleiten, ist schlicht verfehlt, weil das Timing am Markt entscheidend ist. Die Zukunft ist eben ungewiss und wenn wir uns gegen Unsicherheit schützen wollen, ist Diversifizierung der richtige Ansatz, legen wir also nicht alle Eier in einen Korb, auch wenn der Korb gülden glänzt. Hören wir aber damit auf, klüger als der Markt (und damit die Mehrheit der anderen) sein zu wollen, wir sind es in der Regel nicht.
Und falls Sie sich so sehr vor dem „Crash“ fürchten, der gleich um die Ecke kommt, wenn Sie eingestiegen sind, sollten Sie meinen letzten Artikel – Wie eine Topbildung aussieht noch einmal anschauen. Ja, vielleicht kommt schon bald ein „Crash“, nichts ist unmöglich, auch wenn nicht alles wahrscheinlich ist. Aber ein „Crash“ kommt nicht über Nacht nach neuen Höchstständen, er kündigt sich an, der Markt muss sozusagen erst den Boden dafür bereiten. Ein Markt der schon fällt wird riskant. Ein Markt der noch steigt ist ein Trend und Trends sollten wir besser respektieren oder die Konsequenzen tragen.
Der bekannte Ökonom John Maynard Keynes (1883 – 1946) hat einmal sinngemäß gesagt: „Der Markt kann länger irrational bleiben als Sie liquide“. Auch wenn ich wahrlich in vielem nicht Keynes Meinung bin, da hat er mal verdammt recht.
Ihr Michael Schulte (Hari)