Ich habe schon oft über die Selbstreferentialität sozialer Systeme geschrieben, auch Reflexivität genannt. Auch hier auf TE, so zum Beispiel in Wall of Worry – Wand der Angst. Das Faszinierende dabei ist, es wird dazu gerne genickt, aber auch intelligente Menschen zeigen im nächsten Satz dann manchmal, dass sie die ganz zentrale Essenz des Konzeptes doch nicht verinnerlicht haben. Überlesen und Begreifen ist eben ein Unterschied. Zu verlockend ist für unsere Hirne ja auch die Vorstellung simpler Ursache-Wirkung Beziehungen, wir sperren uns sozusagen unbewusst gegen die Erkenntnis, dass es in sozialen Systemen keine absolute Wahrheit geben kann, weil die Nachricht das System selber wieder verändert und es keine unabhängige Beobachterposition gibt.
Das Beobachterproblem
Dabei versteht doch jeder das Beispiel, dass menschliche Forscher, die das Leben einer Erdmännchen-Sippe beobachten wollen, unbedingt darauf achten müssen, von den Erdmännchen nicht erkannt zu werden, weil die Erkenntnis beobachtet zu werden, rückkoppelnd das Verhalten der Tiere ändert. Und zwischen Menschen ist es doch nicht anders, wenn Sie wüssten, dass Ihr tägliches Leben beobachtet wird, würden Sie Ihr Verhalten adaptieren. In einem sozialen System ist eine getreuliche Dokumentation des Verhaltens der Teilnehmer also nur möglich, wenn diese von der Beobachtung nichts ahnen. Sobald aber das Ergebnis der Beobachtung bekannt wird, verändert das Ergebnis das System, so dass das Ergebnis eigentlich schon überholt und nicht mehr gültig ist.
Für das Verständnis des Wirtschafts- und Börsengeschehens hat das ganz zentrale Bedeutung, was aber große Teile der klassischen Volkswirtschaftslehre nicht davon abhält, dem System Wirtschaft und Börse mit deterministischen Formeln zu Leibe zu rücken, so als liefe das Geschehen nach festen, replizierbaren Formeln ab. Das Ergebnis können wir dann mit einer Prognosequalität im Sinne eines Dartpfeils beobachten, für Schlagzeilen ist das aber trotzdem immer wieder gut. So auch die nette Geschichte von der idealen Formel für die Börse, dabei ist es ganz einfach, wenn es die gäbe, gäbe es keinen Markt mehr, weil es einen „objektiven“ und damit definitiven Preis gäbe.
Es gibt in einem Markt nur einen „objektiven“ Preis – den der gerade bezahlt wird
Aber auch unter Anlegern ist der Irrglaube nicht auszurotten, dass es so etwas wie einen „wahren Wert“ einer Aktie gäbe, der – wenn „ausgerechnet“ – einem zukünftige Gewinne garantieren würde. Auch der Satz, dass Börse langfristig ja primär der „realen“ Wirtschaftsentwicklung folgen würde, ist nicht auszurotten, was zwar nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig ist, außer man definiert „langfristig“ im Sinne von Jahrzehnten, was als Aussage aber wertlos wäre, weil unser Leben eben endlich ist – wir können halt nicht ewig warten.
Nun stehen wir fast 2 Jahre später noch viel höher und der gleiche Robert Shiller vermeldet, dass der Markt von hier noch einmal 50% steigen kann. Ahja, sehr hilfreich dieser Indikator. Damit will ich mich gar nicht über den seriösen Robert Shiller mokieren, er gehört zu den Besseren seiner Zunft, aber auch diese Formel ist eben nur eine nette Formel. Schauen wir aber auch auf den respektierten Jeremy Siegel oder den berühmten Jeremy Grantham, alle sehen den Markt nun plötzlich noch viel höher, obwohl die Multiples sich schon mehr als verdoppelt haben und die Unternehmen im Kern immer noch die Gleichen sind wie vor ein paar Jahren: Jeremy Grantham suggests this time is different.
Es ist also ganz einfach, der Markt ist nun bereit, weit mehr für eine Gewinnerwartung zu zahlen und dafür gibt es Gründe, die natürlich auch viel mit den Notenbanken zu tun haben. Und die Herren haben Recht, es kann durchaus noch Jahre so weiter und viel höher gehen. Die harte Wahrheit in einem selbstreferentiellen System ist eben, dass es keinen objektiven Preis gibt, außer den, der gerade in diesem Moment real für etwas bezahlt wird. Dieser Preis ist „echt“ und der „wahre Wert“, genau in diesem Moment. Einen „objektiveren“ Wert gibt es schlicht nicht und jeder der danach sucht, vergeudet seine Zeit.
Demoskopie verändert die Wahrnehmung und das Wahlverhalten
Nun ist das aber alles harte Kost für die Mehrheit und wird instinktiv abgelehnt, die Vorstellung eines „objektiven Wertes“, den man natürlich als Einziger gegen den „zu blöden“ Markt erkennt, ist zu verlockend weil das Ego schmeichelnd. Was wiederum unmittelbar dazu führt, dass so viele ansonsten gebildete und intelligente Menschen an der Börse scheitern, weil sie eben der Chimäre des „objektiven Wertes“ nachjagen. Deswegen hoffe ich, Ihnen heute die Reflexivität sozialer System an einem ganz anderen, viel eingängigeren Thema aufzeigen und nahebringen zu können, einem Thema, das sich aktuell geradezu anbietet.
Die Erkenntnis wer vor der Wahl vorne liegt, verändert das Ergebnis
Stellen wir uns mal vor, es gäbe kurz vor der Bundestagswahl zwei Paralleluniversen in Deutschland, die völlig identisch wären. Wähler, Politiker, Ausgangslage, alles identisch. Nur einen Unterschied gibt es. Im einen Universum verkünden die Demoskopen unisono, dass es wohl auf Schwarz-Gelb herauslaufen wird. Im anderen Universum verkünden die Demoskopen unisono, dass es auf Rot-Rot-Grün herauslaufen wird. Ich behaupte, das Wahlergebnis in beiden Universen wird sich signifikant unterscheiden, nur weil die Demoskopen andere Zahlen verkünden. Schwarz-Grün wird gerade im zweiten Universum signifikant stärker abschneiden, weil die Wähler bewusst Rot-Rot-Grün verhindern wollen. Ich kann das natürlich nicht beweisen, weil ich keine Paralleluniversen erschaffen kann, es ist für mich trotzdem fast sicher.
Wir haben diesen Mechanismus doch auch zuletzt mehrfach ganz konkret beobachten können. Brexit und Trump waren wohl nur möglich, weil deren Sieg nicht erwartet wurde. Hätten die Demoskopen diese Ergebnisse vorausgesagt, wären sie wohl nicht eingetreten, weil Mobilisierungseffekte eingesetzt hätten. Und die Hängepartie die es nun in Großbritannien gibt, hätte es wohl auch nicht gegeben, wenn May nicht vermeintlich so sicher geführt hätte. Denn in Großbritannien haben weniger Corbyn und Labour gewonnen, als dass Premierministerin May für einen desaströsen Wahlkampf voller persönlicher Fehler abgestraft wurde. Hätten viele, die ihr die Stimme verweigert haben, aber gewusst, dass das dann zu einer Hängepartie führt, die dem Land schadet, wäre das Abstimmverhalten möglicherweise ein anderes gewesen, denn viele haben sich über May geärgert, neigen aber trotzdem eher ihrer politischen Haltung zu. Wenn man dann glaubt, dass man eine Strafe folgenlos aussprechen kann, tut man das eher, als wenn daraus Konsequenzen erwachsen, die man auch nicht will.
Alle sozialen Systeme, Wahlentscheidungen ebenso wie Wirtschaft und Börse, funktionieren selbstreferentiell
Das genau ist die Selbstreferentialität sozialer Systeme, die Reflexivität. Wir glauben natürlich alle, dass wir Wahlentscheidungen höchst objektiv und lange abgewogen treffen, aus der Verhaltensforschung wissen wir aber, dass diese bei vielen erst relativ zeitnah kurz vor der Wahl aus eher emotionalen Motiven getroffen werden. Es gibt dann irgendein dominantes, emotionales Thema, bei dem man sich dafür oder dagegen positionieren will und das führt zur Wahlentscheidung. Und demoskopische Ergebnisse kurz vor der Wahl generieren genau diese Themen oder deckeln sie. Aber das sind natürlich immer nur „die anderen“, wir selber entscheiden ja immer rein rational, schon klar.
Dass die Methode „Führen mit Demoskopie“ hervorragend funktioniert – aber nur wenn die Ergebnisse nicht öffentlich werden – führt uns Angela Merkel immer wieder vor, von der seit Jahren in den Medien kolportiert wird, dass sie intensiv über die Methoden der Demoskopie führen soll. In dieser Logik wäre also weniger relevant, was real ist, und auch weniger relevant, was die Wähler unmittelbar wollen, sondern viel entscheidender, wie die Demoskopen den Wählerwillen darstellen und das führt dann unmittelbar zu politischen Entscheidungen. Wer hier keine Bauchschmerzen und ein Gefühl der Machtballung bekommt – Macht die theoretisch auch manipulativ eingesetzt werden könnte – dem kann ich nicht helfen.
Wir müssen mit den Wirkungen der Demoskopie leben
Der entscheidende Punkt ist also die Reflexivität, demoskopische Ergebnisse sind eben keine objektiven Messungen, sondern Teil der Meinungsbildung. In dem Moment, in dem eine Umfrage veröffentlicht wurde, hat sie das Wahlergebnis schon verändert, man könnte auch sagen „unbeabsichtigt manipuliert“. Weil das so ist, dürfen Umfragen kurz vor der Wahl auch nicht veröffentlicht werden, ich halte den Zeitraum aber für viel zu kurz, weil die Umfragen objektiv die strategischen Themen setzen, wie eben zum Beispiel „Rot-Rot-Grün“ als Möglichkeit.
Ich stelle also zur Diskussion, ob Demoskopie nicht manipulativ und damit ungewollt demokratieschädlich wirkt. Und das ausdrücklich nicht, weil ich den Demoskopen pauschal böse Absichten unterstelle – das tue ich nicht – sondern weil jedes veröffentlichte Ergebnis unmittelbar und sofort selbstreferentiell wirkend das Wahlverhalten verändert. Es kann also gar keine „objektive“ und „unabhängige“ Messung von Wahlverhalten geben, jede wirkt sich rückkoppelnd aus. Hinzu kommt in meinen Augen, dass die demoskopischen Ergebnisse das Wahl-Verhalten von Politikern wie Bürgern auf taktische Aspekte fokussieren, statt sich auf die wirklich grundlegenden Eigeninteressen zu besinnen. Ich persönlich halte das für eine Demokratie für höchst problematisch, sie wird dadurch kurzatmiger und von medialen Aufregern abhängiger.
Nun will ich bestimmt nicht vorschlagen, Demoskopie zu verbieten, zumal das nicht funktionieren würde. Für den Verbots-Reflex sollten sich freiheitlich denkende Menschen zu schade sein, der ist Diktaturen und Ideologen zu eigen. Aber wir brauchen das als Bürger ja nicht einfach hinzunehmen. Wir können die Demoskopie ja ad absurdum führen, in dem wir gezielt und bewusst bei Umfragen völlig falsche Antworten geben. Klar versuchen die Demoskopen das zu kompensieren, wenn die Antworten aber nicht zielgerichtet falsch, sondern schlicht „erwürfelt“ sind, wird eine Kompensation nicht möglich sein.
Kann man Demoskopie also vor Wahlen nicht generell verbieten, kann man ihre Relevanz schmälern und damit einem belastbaren, demokratischen Ergebnis einer Wahl wohl einen Dienst erweisen. Denn wenn keiner mehr der Demoskopie traut, treten taktische Erwägungen in den Hintergrund und jeder wählt wieder das, was er sowieso wählen wollte und das ist genau richtig so und erzeugt ein getreuliches Meinungsbild der Wähler. Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass auch die „falschen“ demoskopischen Ergebnisse das Wahlverhalten beeinflussen werden, eine wirkliche Lösung des Problems gibt es also wohl nicht. Die Demoskopie ist nun in der Welt und wir müssen damit leben. Wenn nur die „Mächtigen“ demoskopische Ergebnisse hätten, von denen wir nichts wissen, wäre das noch schlechter und würde nichts lösen, denken Sie mal darüber nach.
Kursbewegungen erzeugen Kursbewegungen
Wenn Sie das Prinzip der Selbstreferentialität nun aber am Beispiel von Umfragen verinnerlicht haben, dann denken Sie auch mal darüber nach, was das Prinzip für Börsenkurse bedeutet. Machen Sie sich klar, dass Kursbewegungen zu „Analysen“ führen, die, wenn gelesen, wieder zu Kursbewegungen führen. Machen Sie sich also klar, dass jedwede „Marktanalyse“, die von genügend Menschen gelesen wird, den Markt unmittelbar verändert, weswegen wenn alle an der Börse „das Eine“ erwarten, auch zuverlässig immer „das Andere“ passieren wird, unabhängig davon, was irgendwelche fundamentalen Kennziffern aussagen. Ihrem Börsenerfolg wäre diese Erkenntnis auf jeden Fall nicht abträglich.
Ihr Hari