Neben Finanz- und Börsenthemen, erlaube ich mir, wie zuletzt zum Korporatismus hier auch immer mal wieder einen kritischen Blick auf grundlegende gesellschaftliche und politische Entwicklungen zu werfen, so auch heute.
Denn das Mantra von den „Abgehängten“, die konservativen Bewegungen weltweit derzeit zu politischem Erfolg verhelfen und Begriffen wie „Heimat“ wieder eine neue Bedeutung schenken, wird derzeit allzu gerne von den meisten Medien verbreitet.
Egal ob Trumps Sieg, der Brexit oder der Aufstieg der AfD in Deutschland, immer soll es primär der ungebildete, von der Globalisierung abgehängte „Bierbauchträger“ aus dem „Rostgürtel“ sein, der sozusagen träge mit heraushängendem, besabbertem Unterhemd vor dem Fernseher sitzt, sich von grenzdebilen TV-Shows berieseln lässt und dann den Protest wählt.
Das Schlagwort der „Abgehängten“ als Zeichen moralischer Selbsterhebung
Dieses Mantra ist so beliebt, weil es denen, die es verbreiten, moralische Absolution erteilt und vermeintliche intellektuelle Überlegenheit zuteilt. Denn aus Umfragen ist ja bekannt, dass die Journalisten in Deutschland keineswegs ein getreues Abbild der politischen Orientierung der Bevölkerung darstellen, sondern zu zwei Dritteln politisch zu Rot-Grün neigen und sich daher zu den „Progressiven“ zählen, die leider zu oft glauben, den Auftrag zu haben, den Rest der „dummen“ Bevölkerung auf den richtigen Weg zu führen. Dass das so ist, liegt mit Sicherheit an dem Selektionsmechanismus der Berufswahl in jungen Jahren.
Gerade wer die Welt „verbessern“ will und einen gesinnungsethischen Drang besitzt, gegen das Böse in der Welt anzuschreiben, wählt scheinbar den Journalismus als Berufsweg. Vor Kurzem habe ich zur NRW Wahl ein kleines Essay einer angehenden jungen Journalistin gelesen, in dem sie ihre ursprüngliche Motivation als 18-jährige offenlegt, diesen Weg einzuschlagen. Der Artikel ist in seiner Offenheit und Ehrlichkeit sehr schön und diese persönliche Haltung auch ehrenwert und will ich hier nicht kritisieren. Wenn aber das die Motivation der Mehrheit der angehenden, jungen Journalisten sein sollte, bekommt der Journalismus eben gesinnungsethische Schlagseite.
Dabei wäre der Drang, die Welt zu entdecken und ohne persönlichen Bias so getreulich wie möglich über Sie zu berichten, also die Welt sozusagen zu den Lesern zu bringen, die bessere Motivation für Journalisten, die eigentlich von der Neutralität und der Liebe zu dem, was real ist, leben sollten und nicht dem, was sie gerne hätten. Wer die Welt aber objektiv und unvoreingenommen entdecken will, geht wohl eher in die Wirtschaft und dort dann ins Ausland. Wer aber für eine „bessere“ Welt agitieren will, weil er die Weisheit in jungen Jahren schon gefunden zu haben glaubt, dagegen scheinbar zur NGO oder in den Journalismus. Natürlich ist das so pauschal übertrieben und ein Zerrbild, es hat aber ebenso einen wahren Kern, wie das Zerrbild von den „Abgehängten“.
Die Arbeiterklasse wählt Trump
Womit wir wieder bei den „Abgehängten“ sind, denn auch wenn es ein Zerrbild ist, hat es doch einen wahren Kern und frustrierte und vom sozialen Abstieg bedrohte Bürger sind mit Sicherheit Teil dieser Wählerstimmen, die Protest gegen die herrschenden Umstände ausdrücken. Gerade die SPD, die früher mal eine Arbeiterpartei war, müsste erkennen, dass das gerade in den U.S. wieder eine Art „Arbeiterbewegung“ ist, die ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verleiht. Denn Trump wurde gerade auch von der „Arbeiterklasse“ gewählt, die Angst vor dem weiteren Abstieg hat – soweit man im 21. Jahrhundert überhaupt noch von einer Arbeiterklasse sprechen kann. Der Hipster aus New York hat dagegen eher Hillary Clinton mit dem Bedauern gewählt, dass es nicht Bernie Sanders ist. Man könnte es der SPD ins Stammbuch schreiben, die Klientel, die sie noch im Steigerlied besingt, die mit ihren Funktionärskadern aber rein gar nichts mehr zu tun hat, wählte oft Donald Trump und hier in Deutschland auch die Linke oder AfD.
Zeit ist unser knappstes Gut überhaupt und Zeit definiert Teilhabe
Faszinierend und verfehlt ist dabei auch, dass das Wort von den „Abgehängten“ gerade hier in Deutschland rein monetär betrachtet wird. Wenn Martin Schulz wieder mit dem Gummibegriff von der „Gerechtigkeit“ in den Wahlkampf ziehen will, ist es immer finanzielle und wirtschaftliche „Gerechtigkeit“, die damit gemeint ist und durch weitere Umverteilung gelöst werden soll. Aber auch andere Parteien haben immer nur den wirtschaftlichen Aspekt im Blick, Gesellschaftspolitik findet nicht mehr statt. Dabei gibt es *zwei* Güter, die in unserer Gesellschaft und in unserem Leben eminent knapp sind: Geld *und* Zeit.
Zeit ist dabei das knappste Gut überhaupt, denn unser Leben ist endlich und viel zu schnell vorbei. Und mit Zeit verbindet sich auch die Möglichkeit der politischen Teilhabe. Und weil das so ist, existiert hier die fast noch wichtigere Gerechtigkeitslücke als auf der finanziellen Seite. Denn so wirtschaftlich schlecht geht es uns in diesem Land wahrlich nicht, wenn man sieht, wohin von der Mehrheit – meistens 2x im Jahr – in Urlaub geflogen wird. Diese „Gerechtigkeitslücke“ bei der Zeit ist aber fatal und stellt eine strukturelle Gefährdung des demokratischen Gemeinwesens dar, denn während den einen die Einflussnahme verwehrt ist, haben die anderen jede Menge Zeit, sich einzumischen und zu agitieren.
Die Gerechtigkeitslücke – wer Zeit hat sich politisch einzumischen
Schauen wir doch mal, wer Zeit oder qua Job den Auftrag hat, sich politisch einzumischen, sich in Vereinen, Parteien, NGOs und Verbänden zu engagieren und so Einfluss auf unser von Korporatismus geprägtes politisches System zu nehmen.
Erstens die Rentner und Pensionäre, die haben sich das redlich verdient und das ist richtig so.
Zweitens die Arbeitslosen, die „Abgehängten“, um im obigen Standardbild zu bleiben.
Davon gibt es in unserem Land aber bei einer Arbeitslosenquote von 6,4% derzeit nicht so viele. Und weil qualifizierte Menschen derzeit überall händeringend gesucht werden, ist der Anteil Ungebildeter bei den Arbeitslosen hoch, die eher nicht am politischen Diskurs teilnehmen.
Drittens die wenigen, ganz oben in der wirtschaftlichen Nahrungskette angekommenen, die dann als Chefs oder Vertreter ihrer Unternehmen medial oder in Verbänden Einfluss nehmen können.
Viertens die Journalisten, die wie oben erwähnt überwiegend einem „linken“ Weltbild zuneigen und leider in letzter Zeit zu oft Gesinnungsjournalismus betreiben, statt die Welt objektiv zu ihren Lesern zu bringen.
Fünftens ein riesiger Apparat steuerfinanzierter oder zwangsfinanzierter Institutionen und Verbände, die von der Politik immer gerne die „politisch relevanten Gruppen“ genannt werden und dabei zu oft nichts weiter als Interessenswahrungs-Organisationen sind.
Zu Letzterem schaue man nur mal in Manuela Schwesigs 100 Millionen Euro Erziehungs-Programm „Demokratie leben“, aus dem ich beispielhaft mal die Programm Partner herausgegriffen habe. Ein Blick auf Berlin ist besonders spannend, dann sehen wir, wie groß dieser steuergeförderte Bereich mittlerweile geworden ist und wer von diesen Programmen profitiert.
Die finanziell und zeitlich Abgehängten – klassische Familien mit Kindern
Und damit sind wir bei den wirklich Abgehängten, den finanziell und zeitlich abgehängten in unserem Land, die diese ganze Party nämlich am Laufen halten, finanzieren und gar keine Zeit haben, sich politisch zu engagieren und daher auch keine politische Stimme haben: Die Menschen mitten im Berufsleben, mitten in der „Autobahn des Lebens“, besonders wenn sie auch Kinder haben. Die zeitlich Abgehängten.
Denn während steuergeförderte Minderheiten ihre politische Agenda betreiben und Verbände ihre Interessen vertreten, haben diese Menschen keine Zeit zur politischen Agitation und keine Lobby. Aber Steuern zahlen dürfen sie in der brutalen Progressionszone, in der man als Einzelner mit etwas mehr als 50.000 € Einkommen schon beim Spitzensteuersatz ankommt. Diese Menschen finanzieren die Party der anderen, sie sind das Rückgrat des wirtschaftlichen Erfolgs des Landes.
Kinder haben keine Lobby, Eltern auch nicht
Besonders das Thema Kinder muss unbedingt erwähnt werden. Denn ein durchschnittliches Doppelverdiener-Ehepaar mit zwei Kindern, das vielleicht auch noch zu wenigen Freunden Kontakt halten und wenigstens mal im Sportverein noch mitmachen will, hat in der Regel keine Zeit für politische Einflussnahme, selbst wenn es sich wirtschaftlich einen bescheidenen, bürgerlichen Wohlstand erarbeiten kann. Dabei ist genau das immer noch der Normalfall, die Familie mit zwei Kindern, nicht die diversen Minderheiten, die umso lauter ihre Interessen vertreten.
Die kinderlosen „Eliten“
Wenn man sich über diese Herablassung wundert, schaue man übrigens mal ganz interessiert auf europäische Führer und stelle Erstaunliches fest. Nach den öffentlichen Daten im Internet (ohne Gewähr) erscheinen die Staats- und Regierungschefs der wirtschaftlich relevantesten europäischen Nationen alle kinderlos: Angela Merkel (Deutschland), Emmanuel Macron (Frankreich), Theresa May (GB) – übrigens auch Nicola Sturgeon (Schottland), Paolo Gentiloni (Italien) und Mark Rutte (Niederlande). Faszinierend oder? Falls das nicht genügt, sind aber auch Stefan Löfven (Schweden), Xavier Bettel (Luxembourg) und der EU Kommission-Präsident Jean-Claude Juncker kinderlos. Weiter habe ich nicht geforscht, der Punkt ist auch so gemacht, aber es dürfte weitere Fälle geben.
Das bürgerliche Rückgrat der Gesellschaft ist vom politischen Diskurs abgehängt
Fakt ist, dass diese Familien – das bürgerliche Rückgrat der Gesellschaft, das das Staatswesen mit seiner Arbeit und seinen Steuern am Laufen hält – mangels Zeit faktisch vom politischen Diskurs abgehalten wird und gleichzeitig unter einer erdrückenden Abgabenlast liegt. Und das halte ich für ein schwerwiegendes Ungleichgewicht unserer Demokratie, die sich damit zu einem Wohltaten-Beglückungsheim lautstarker, steuerfinanzierter oder sowieso wirtschaftlich starker Minderheiten entwickelt. Es bräuchte Politiker, die diese arbeitenden Menschen wirklich vertreten und gerade die beiden Volksparteien und gerade auch die SPD hätten das traditionell eigentlich als Aufgabe. Leider passiert zu oft das Gegenteil, außer in Schönwetterreden kurz vor der Wahl spielen diese Leistungsträger der Gesellschaft politisch keine Rolle, was wiederum mit dem unserem Parteiensystem inhärenten Funktionärswesen und der Orientierung der Medien und Eliten zu tun hat.
Martin Schulz, der gerade auf der Suche nach seinen Wählern ist, kann ich also helfen: da sind sie. Das sind nicht die Funktionäre der Parteigremien, es sind auch nicht die Profiteure der Schwesigschen Beglückungsprogramme. Es sind Arbeitnehmer und Selbstständige mitten im Arbeitsleben, besonders mit Kindern. Die wirklich Abgehängten, zeitlich und zunehmend auch finanziell. Aber gleichzeitig die, ohne deren Engagement und Arbeitskraft dieser Staat nicht existieren könnte.
Weg mit den Funktionärskadern, her mit mehr direkter Demokratie
Ist es nicht ein Skandal, dass gerade diese Mitte der Gesellschaft vom politischen Diskurs abgehängt ist und kaum echte Fürsprecher hat? Wäre das nicht ein viel wichtigeres Thema für Journalisten, die die Welt verbessern wollen, als die Ideologien und Manierismen jeder x-beliebigen Minderheit? Wenn man mal dahin schaut, wo Parteien noch als Volksparteien gelten können und bei Wahlen mehr als 40% erzielen, machen diese Parteien immer eine Politik, die diese Mitte der Gesellschaft im Auge hat. Aber diese Parteien werden immer weniger und das ist eine fatale Entwicklung, die sich dann in Protestwahlen Bahn brechen wird. Wie in den USA.
Die „Abgehängten“ schlagen mit dem Stimmzettel oder der Nichtwahl zurück, aber eben nicht nur die wirtschaftlich Abgehängten und Ungebildeten, sondern auch vor allem die aus der Mitte der Gesellschaft, die sich in Politik und Presse nicht mehr vertreten fühlen. Was hat in NRW noch einmal die Wahl entschieden? Es waren Kriminalität, Verkehr und Schulpolitik, die Themen eben, die nicht Funktionären mit Fahrdienst, sondern den wirklich „Abgehängten“ im täglichen Leben auf den Nägeln brennen. Guck an.
Für mich gibt es da ein klares Fazit. Wir brauchen eindeutig einen Bruch der Dominanz der Parteiapparate und des damit verbundenen Funktionärswesens und dafür mehr direkte Demokratie, sonst wird sich das nicht ändern und es wird weiter, wer am Lautesten schreit, die größte Aufmerksamkeit bekommen. Aber haben jemals Frösche ihren eigenen Teich trockengelegt?
Ihr Michael Schulte (Hari)