In der Vergangenheit dominierte der Eindruck, Frankreich nähme Deutschland in der Europäischen Union an die Leine. Das galt besonders in Finanz- und Wirtschaftsfragen, in denen der traditionell zentralistische und protektionistische Einfluss von Paris spürbar war. Ironischerweise könnten die Franzosen die romantisch veranlagten Teutonen im energiepolitischen Bereich zurück auf den Boden holen. Denn die Debatte in Brüssel, ob Kernenergie als „grüne“ Energiequelle gelten darf, hat Frankreich vorangetrieben, indes die geschäftsführende Bundesregierung ihre letzten Tage absitzt und die Koalitionsverhandlungen noch auf Hochtouren laufen.
Bereits nach der Ölkrise in den 1970er Jahren hatte Frankreich in der Atomkraft die Lösung erblickt. Premierminister Pierre Messmer fasste den nach ihm benannten Plan: weg vom Öl, hin zur Kernenergie. Dafür ging man auch über das Parlament und die öffentliche Meinung hinweg. Von den anberaumten 170 Kraftwerken blieb zwar nur ein Drittel übrig. Doch das Ergebnis entspricht grundsätzlich den damaligen Überlegungen: energiepolitischen. Frankreich unterhält 56 Reaktoren, die rund 70 Prozent des französischen Stroms produzieren. Daneben spielt die Nutzung der Wasserkraft im Nachbarland eine große historische Rolle. Während Deutschlands Kohleverstromung die CO2-Bilanz verschmutzt, profitiert Frankreich mit seiner CO2-neutralen Energiegewinnung massiv im internationalen Vergleich.
Berlin betrachtet das französische Vorpreschen kritisch – sowohl in der alten wie in der neuen Koalition. „Es macht überhaupt keinen Sinn, in etwas einzusteigen, das viel zu gefährlich, viel zu teuer und viel zu langsam ist, um beim Klimaschutz auch nur irgendwas zur Lösung beizutragen“, sagte Umweltministerin Svenja Schulze (SPD). Auch Christian Lindner (FDP) äußerte Bedenken, denn ordnungspolitisch handele es sich um eine Energiequelle, die „im Markt zu versichern ist und daher die Staatshaftung gegen den GAU braucht“. Doch die Allianz der Atomgegner auf EU-Ebene ist klein. Deutschland stehen nur Österreich, Luxemburg sowie Spanien und die Niederlande bei. Im Zuge der Energiekrise haben aber sowohl Madrid als auch Amsterdam ihre Positionen vorsichtig revidiert. Und auch Schweden, das sich früher einen Atomausstieg verordnet hatte, sieht die Kernkraft weniger skeptisch als früher.
Der verzweifelte Appell an Kommissionschefin Ursula von der Leyen: Man solle warten, bis sich die Ampel-Regierung in Berlin gebildet hätte. Der EU-Zug soll also eine Vollbremsung machen, weil die Deutschen ein Sonderticket brauchen, damit der grüne Zirkus mitfahren darf. Die Angst geht um: Mit Angela Merkel geht auch die von ihr eingefädelte Energiewende. Und Olaf Scholz als Newcomer kann nur noch zusehen, wie ihm die Knochen eines Festessens serviert werden, das er schlichtweg verpasst hat. Es wird nicht der erste deutsche Alleingang sein, der auf europäischer Ebene in Zukunft bestraft wird. Nicht nur in der Energiepolitik.