Die EU-Kommission macht ernst mit ihren Anstrengungen zur Reduzierung des Ausstoßes an Kohlendioxid. In einem zum Jahresende verschickten Anhang zur Verordnung EU 2021/2139 vom 4. Juni 2021 werden konkrete Zeitpunkte definiert, ab denen Erdgas Schritt für Schritt durch „grüne“ Gase zu substituieren ist. Da es im Wesentlichen um Wasserstoff gehen wird, stellt sich die Frage, aus welcher Primärenergiequelle dieser erzeugt werden soll und ob es für die dann erforderlichen Mengen überhaupt eine realistische Option für die Bereitstellung gibt.
Das Ergebnis ist ernüchternd. Zwar wird weltweit untersucht, wie grüner Wasserstoff an den „Wetterecken“ des Weltklimas durch Wind oder aber in den Wüsten durch Photovoltaik erzeugt und zu den Verbrauchern transportiert werden könnte. Aber keine Option verspricht eine schnelle und vor allem kostengünstige Lösung. Kurzfristig ist nur die Herstellung von Wasserstoff durch Elektrolyse aus den Leistungsreserven der Kernkraftwerke erkennbar, sobald diese als „grün“ eingestuft werden.
Anhang 1 der Verordnung enthält technische Bewertungskriterien, anhand derer bestimmt wird, unter welchen Bedingungen eine Wirtschaftstätigkeit wesentlich zum Klimaschutz beiträgt und erhebliche Beeinträchtigungen der übrigen Umweltziele vermeidet. In 9 Kapiteln werden alle Wirtschaftszweige genannt, die für den Ausstoß von CO2 relevant sein können:
- Forstwirtschaft
- Tätigkeiten in den Bereichen Umweltschutz und Wiederherstellung
- Verarbeitendes Gewerbe / Herstellung von Waren
- Energie
- Wasserversorgung, Abwasser – und Abfallentsorgung, Beseitigung von Umweltverschmutzungen
- Verkehr
- Baugewerbe und Immobilien
- Information und Kommunikation
- Erbringung von freiberuflichen, wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen
Im Zusammenhang dieses Aufsatzes interessiert Kapitel 4 „Energie“ mit insgesamt 25 bewerteten Tätigkeiten wie Stromerzeugung aus den unterschiedlichen Quellen der Primärenergie, Übertragung und Speicherung von Strom bzw. Elektrizität und Wasserstoff usw.
Es fällt auf, dass in der Liste bislang die Primärenergien Erdgas und Nukleare Energie fehlten. Die Lücke wird nun geschlossen mit der Vorlage weiterer Wirtschaftstätigkeiten 4.26 bis 4.30. In dem Entwurf (Draft), der zum Jahresende den 27 Mitgliedern vorgelegt wurde, werden Erdgas und Kernenergie als „grüne“ Energien bewertet, wenn sie zur Stromerzeugung genutzt werden. Denn Nuklearenergie setze kein CO2 frei und Erdgas sei erheblich „sauberer“, wenn es als Übergangslösung die weitaus belastenderen Kohlekraftwerke ersetzen soll.
Bezüglich der Aufnahme der Kernenergie in die Taxonomie der EU liegt bereits eine Stellungnahme des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) vor, in der das Amt in Abrede stellt, dass das wesentliche Kriterium „Do Not Significant Harm (DNSH)“ erfüllt sei. Wenn der „grüne“ Atomstrom auch im Blätterwald ein unüberhörbares Rauschen ausgelöst hat, so etwa mit Luisa Neubauer, die die Pläne der EU „nicht nur verlogen, sondern brandgefährlich“ geißelt, hielt sich die Empörung über die Einstufung des Erdgases als bedingt grüne Primärenergie eher in Grenzen. Auch in der Stellungnahme der BASE kommen die kritischen Aussagen der Verordnung zu den Gaskraftwerken nicht vor.
An dieser Stelle soll nicht erörtert werden, ob die Bundesregierung überhaupt eine reelle Chance hat, mit den Verbündeten Österreich und Luxemburg sowie gegebenenfalls weiteren Mitgliedern eine qualifizierte Mehrheit zustande zu bringen, um die Ergänzung der Verordnung per Veto zu Fall zu bringen. Schließlich sind hierfür 20 der 27 Länder und 65 Prozent der Bevölkerung nötig. Vielmehr soll untersucht werden, ob das Erdgas tatsächlich der Rettungsanker sein könnte, mit dem sich Deutschland aus der selbstverschuldeten Zwangslage bei der Bereitstellung von zuverlässiger Kraftwerksleistung befreien könnte.
Kapitel 4.29: Electricity generation from fossil gaseous fuels
Gaskraftwerke haben folgende Kriterien zu erfüllen:
a. Über den Lebenszyklus (life cycle) darf der Ausstoß von CO2 den Wert von 100 g CO2e/kWh nicht überschreiten.
Dies ist offensichtlich nur möglich, wenn zusätzliche Maßnahmen vorgesehen werden, wie Beimengung von grün erzeugten Gasen oder mindernde Maßnahmen wie CCS (Carbon Capture Storage). Diese Möglichkeit soll hier nicht weiter betrachtet werden, da dann insbesondere die Fragen beantwortet werden müssten, wo und ab welcher Anlagengröße CCS überhaupt machbar und sinnvoll ist und vor allem, welche Kosten dadurch verursacht werden.
b. Weitere Kriterien für die Genehmigung von Anlagen bis zum 31.12.2030 sind
- Die direkte Emission von Treibhausgasen (GHG=Green House Gases) ist geringer als 270 g CO2e/kWh und die Jahresemission übersteigt im Mittel nicht 550 kg CO2e/kW, berechnet über 20 Jahre.
- Die Kraftwerksleistung kann noch nicht durch erneuerbare Energien ersetzt werden.
- Die Anlage ersetzt ein mit festen oder flüssigen fossilen Energien betriebenes Kraftwerk.
- Die neue Anlage hat maximal eine um 15 Prozent höhere Leistung als die alte.
- Die Anlage gestattet das Mitverfeuern von aus erneuerbaren Energien erzeugten Gasen oder Gasen mit geringem Kohlenstoffanteil. Deren Anteil soll bis 1. Januar 2026 30 Prozent betragen, bis 1. Januar 2030 55 Prozent und ab 31.12.2035 soll schließlich ganz auf „grüne“ Gase umgestellt sein.
- Die Anlagenerneuerung reduziert insgesamt die GHG-Emission um 55 Prozent.
- Formale Anforderungen an die Mitgliedstaaten.
Was also auf den ersten Blick aussieht wie eine Aufforderung zum Bau moderner Gaskraftwerke, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als erhebliche Einschränkung der Genehmigungsfähigkeit auch moderner Gas- und Dampfkraftwerke (GuD). Wesentlich ist die Kompatibilität mit Gasen aus erneuerbaren Energien (Punkt 2) und der Ersatz mit Kohle oder Öl betriebener Kraftwerke (Punkte 3 und 4). Ob der in Punkt 5 dekretierte Zeitplan mit bereits 2026 30 Prozent grünem Gas realistisch ist, muss mit einem großen Fragezeichen versehen werden. Zunächst soll aber das Kriterium in Punkt 1 näher untersucht werden: die direkten Emissionen.
Die direkten Emissionen
Die Verbrennung von Methan (Erdgas) setzt folgende Energie frei:
CH4 + 2 O2 -> CO2 + 2 H2O mit D H = -802,4 kJ/mol
Oder 802,4 kWs/mol/3600 s/h = 0,22289 kWh/mol. Für eine kWh benötigt man also 4,4865 molCH4. Dabei werden genauso viele mol CO2 freigesetzt, nämlich 4,4865 mol * 44 gCO2/mol = 197,4 gCO2, also rund 200 g CO2.
Moderne GuD-Kraftwerke erreichen unter optimalen Bedingungen Wirkungsgrade von 63 Prozent, also 200/0,63 = 317 gCO2e/kWh. Damit liegen die Emissionen der modernsten Gaskraftwerke mit aus thermodynamischen Gründen kaum mehr zu steigernden Wirkungsgraden bereits deutlich über dem Grenzwert des Kommissionsvorschlags.
Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Grenzwert. Die oben berechneten 317 gCO2e/kWh ergeben bei einem Budget von 550 kg/kW für die Leistung 1 kW etwa 550/0,317 = 1735 Stunden, was in der Regel für einen wirtschaftlichen Betrieb nicht ausreichend sein dürfte. Auch dieses Kriterium erfordert also den Einsatz grüner Gase im Mix mit Erdgas.
Im laufenden Betrieb fällt die Rechnung allerdings noch ungünstiger aus. Wesensmerkmal der GuD-Kraftwerke ist das Zusammenspiel einer Gasturbine, deren Abwärme mit sehr heißem Abgas von einer nachgeschalteten Dampfturbine genutzt wird. Gasturbinen sind überaus schnell auf voller Leistung und können genauso schnell vom Netz genommen werden. Sie eignen sich also vor allem für die schnelle Bereitstellung von Regelenergie, eine Eigenschaft, die umso wertvoller ist, je größer der Anteil der „Volatilen Erneuerbaren Energien“ (VEE) aus Wind und Sonne am Energiemix ist.
Die hohen Wirkungsgrade werden allerdings nur erreicht, wenn beim Hochfahren der Gasturbine auch die Abwärme im nachgeschalteten Dampfkraftwerk vollständig nutzbar gemacht werden kann. Je höher der Anteil der VEE am Strommix, umso höher der Bedarf an Regelenergie und umso geringer der Anteil der Dampfturbine. Damit sinkt der Wirkungsgrad und nähert sich dem der Gasturbine (ca. 40 Prozent).
Die ernüchternde vorläufige Feststellung ist: Ohne grüne Gase wird es keine Gaskraftwerke mehr geben. Wegen des strengen Zeitplans (Punkt 5) ist also neben technischen Problemen besonders die Frage zu erörtern, wo die „klimaneutralen“ Gase herkommen sollen.
Kapitel 4.30: Kraft-Wärme/Kälte-Koppelung
Die Kraft-Wärme-Koppelung (KWK) ist eine überaus sinnvolle Nutzung von Primärenergie, weil sie etwa bei der Gebäudeheizung unmittelbar Erdgas ersetzen kann, denn Abwärme aus der Stromerzeugung, die bei Großkraftwerken meist ungenutzt an die Umgebung abgegeben wird, ist als Heizenergie mit niedrigen Temperaturen bestens geeignet. Wenn auch die Potenziale noch nicht ausgeschöpft sind, nutzen in vielen Städten Fernwärmenetze die Abwärme der größeren Kraftwerke, und Blockheizkraftwerke sind auch für kleinere Anschlussleistungen verfügbar. Ermuntert die Kommission wenigstens die weitgehende Nutzung der Abwärme?
Bedingung a. im Kapitel 4.30 ist wieder die CO2-Emission von 100g/kWh über den Lebenszyklus, allerdings bezogen auf die genutzte Energie in Form von Strom UND Wärme. Aber auch hier gilt wie in Kapitel 4.29, dass der Wert ohne weitgehende Abscheidung von CO2 (CCS) oder ohne die Verwendung grüner Gase nicht erreichbar ist.
Unter b. sind Anlagen bis 31.12.2030 genehmigungsfähig, die bestimmte Bedingungen (i bis ix) erfüllen. Sie sind analog derer in Kapitel 4.29 und sollen hier nicht wiederholt werden. Lediglich der Wert von 270 gCO2e/kWh Energie, diesmal allerdings bezogen auf genutzte elektrische Energie und Wärme, soll hier beleuchtet werden.
Geht man von einer KWK-Anlage für Heizzwecke aus, dann sollten bei einem elektrischen Wirkungsgrad von 33 Prozent und der Nutzung rund der Hälfte der Abwärme etwa 60 Prozent Wirkungsgrad möglich sein, bei ganzjähriger Nutzung, etwa als Prozesswärme in der Lebensmittelindustrie, der Papierherstellung o.ä. auch 85 Prozent. Wenn wir diesen bereits sehr hohen Wert als technisch machbar annehmen, dann erhält man 200/0,85 = 235 gCO2e/kWh genutzter Energie. Bei Anwendung auf kleinere Blockheizkraftwerke mit niedrigeren Wirkungsgraden, also etwa 60 Prozent erhält man 200/0,6= 333 gCO2e/kWh. Das dürfte für die Mehrzahl der kleineren Blockheizkraftwerke das „Aus“ bedeuten.
Vollends unverständlich wird es, wenn vor allem auf den Ersatz bestehender KWK-Anlagen mit hohen Emissionen abgehoben wird. Welche Anlagen könnten da gemeint sein angesichts von Gesamt-Wirkungsgraden bei der Fernwärme und bei Blockheizkraftwerken, die für thermische Umwandlungen ungewöhnlich hoch sind? Oder sie sollen Kraftwerke ohne KWK ersetzen, aber warum nicht auch Heizungsanlagen, bei denen durch KWK Primärenergie bis 30 Prozent eingespart werden kann? Gerade bei Bürogebäuden mit hohem Heizbedarf und gleichzeitig hohem Stromverbrauch ist KWK besonders sinnvoll, zumal die Stromerzeugung im Gebäude auch als Notstromaggregat nutzbar ist.
Es ist nicht auszumachen, ob die Verfasser des Textes diese Widersprüche nicht erkannt haben oder ob sie absichtsvoll so und nicht anders formuliert wurden. Jedenfalls könnten diese Einschränkungen die ganze Industrie der Blockheizkraftwerke gefährden. Wer kann daran ein Interesse haben?
Wie soll die Lücke an grünen Gasen bzw. flüssigen Brennstoffen geschlossen werden?
1) Die Nationale Wasserstoffstrategie (BMWi, Juni 2020)
Im Juni 2020 hat die Bundesregierung die Nationale Wasserstoffstrategie NWS veröffentlicht. Bereits im Eingangskapitel erkennt sie, dass heimische Energiequellen nicht ausreichen, um den zu erwartenden Bedarf an Wasserstoff zu decken. Sie sieht bis 2030 einen Bedarf von 90 bis 110 TWh pro Jahr. Im selben Absatz wird angekündigt, einen Teil durch neue Erzeugungsanlagen „einschließlich der dafür erforderlichen Offshore und Onshore-Energiegewinnung“ einer Leistung von 5 GW sicherzustellen. Für die angegebenen 14 TWh netto und unter Berücksichtigung des Wirkungsgrades von 0,7 bedeutet dies angenommene 4000 Volllaststunden (VLSt). Diese sind auch für Offshore-Anlagen sehr optimistisch angesetzt, für Onshore aber unerreichbar.
Darüber hinaus wird auch nicht klar, ob der zusätzliche Ausbau nur der Wasserstoffproduktion zugute kommen soll oder ob er nicht schon für die allgemeine Stromversorgung eingerechnet wurde. Da bereits heute die chemische Industrie Wasserstoff mit einem Äquivalent von 55 TWh/a verbraucht und diesen aus Erdgas („Dampfreformierung“) herstellt, sollte logischerweise auch dieser Teil durch Elektrolyse ersetzt werden. Der Strom, der wegen Überangebot der VEE im Ausland entsorgt werden muss, ist bei Weitem nicht ausreichend, um einen substanziellen Beitrag zur H2-Produktion zu leisten (Pfaud, 9 – 2020).
Auch wird in der NWS der Bundesregierung der Energiebedarf der chemischen Industrie nicht beziffert, der ebenfalls in der Größenordnung der heutigen Stromproduktion liegen wird, was einem Bedarf von insgesamt mehr als 1000 TWh pro Jahr entspricht. Angesichts dieser Zahlen erscheint die Zielgröße der NWS alles andere als ambitioniert.
2) Strom aus inländischer Erzeugung durch Wind und Sonne
Inzwischen hat der amtierende Wirtschaftsminister angekündigt, dass er das Tempo des Ausbaus erheblich steigern will. In der Folge muss sich Deutschland deshalb nicht nur auf steigende Kosten der Stromversorgung einrichten. VEE bedeutet nun einmal ein Überangebot, wenn man den Strom nicht braucht, ein Mangel bei Dunkelflaute und obendrein auch eine erhöhte Instabilität der Netze. Eine Abhilfe könnte sein, durch eine grundlegende Reform des EEG das Abnahmeprivileg für Erneuerbare Energien (EE) zu modifizieren und die Einspeisung ins Netz nur bei Bedarf zuzulassen, im Regelfall aber Wasserstoff über Elektrolyse dezentral zu erzeugen. Elektrolyseure sind im Betrieb flexibler und lassen sich deshalb leichter in ihrer Leistung an das Angebot an VEE angleichen. Derzeit wird auf dem Gebiet der Wasserstofferzeugung vielerorts geforscht, das Hydrogen Council (Mc Kinsey & Company, February 2021) vereint weltweit 109 namhafte Firmen. Die Zukunft wird zeigen, wie flexibel die Elektrolyse tatsächlich ohne größere Schäden an den Elektroden und ohne Verluste im Wirkungsgrad betrieben werden kann.
Dass der Schwenk der VEE weg vom allgemeinen Netz hin zur H2-Produktion unter den gegenwärtigen politischen Mehrheiten kaum Aussicht auf Umsetzung hat, steht auf einem anderen Blatt.
Durch die vorgesehene Förderung von Windrädern auch in windarmen Regionen hat der Gesetzgeber im EEG im Übrigen indirekt erkennen lassen, dass das Potenzial an Windstrom zumindest Onshore ausgereizt ist. Gleichwohl will der Wirtschaftsminister am forcierten Ausbau der Windenergie in Deutschland festhalten (siehe hierzu auch Abbildung 3). Konsequent wäre gewesen, die Förderung einzustellen und mit ähnlichen Förderbeträgen wie beim Ausbau von Wind und Sonne zukunftsfähige Projekte im europäischen und vor allem nicht-europäischen Ausland zu fördern. Hier liegen bereits umfangreiche Vorarbeiten vor (Runge Ph, 2020).
3) Sunshine Shipping
Die einzige Primärenergiequelle, die tatsächlich praktisch unbegrenzt verfügbar ist, ist die Sonnenenergie. Da die Sonne bekanntlich nachts verschwindet, sollte sie wenigstens am Tage zuverlässig und intensiv scheinen. Das ist in Deutschland leider nicht der Fall, wo Strom aus Photovoltaik im Winter praktisch vernachlässigbar ist und im Sommer nur bei möglichst wolkenlosem Himmel produziert wird.
In der nachfolgenden Karte sind sieben Regionen mit hoher Kapazität an EE, der Nähe zu Häfen und relativer politischer Stabilität eingezeichnet (Abbildung 1). Neben den 7 oben genannten Regionen kommt als stabiles Land in Nordafrika derzeit Marokko als Partnerland in Frage. Dort läuft bereits mit dem Sonnenkraftwerk Noor bei Ouerzazate ein vielversprechender Prototyp, eine noch stärkere deutsche mit entsprechenden Finanzmitteln ausgestattete wissenschaftliche Beteiligung wäre wissenschaftlich lohnend und zukunftsweisend. Es ist deshalb zu begrüßen, dass der Anfang 2021 ausgelöste diplomatische Konflikt mit Deutschland seit Anfang dieses Jahres wieder beigelegt ist (Hackensberger, 05.01.2022).
Für die sieben bezeichneten Regionen erhält man erstaunliche Werte der Volllaststunden für die unterschiedlicher Formen der EE (Tabelle 1).
Man sieht sofort, dass die Auslastung der Erzeugungsanlagen in den “Wetterecken” des Weltklimas bei Weitem übersteigt, was in Deutschland denkbar ist. Bei deutschen Onshore-Anlagen lagen sie 2013 bei 2150 Volllaststunden (VLSt) und 2016 im Zehnjahresmittel bei 1651, was widerspiegelt, dass die „guten“ Standorte vergeben sind und immer häufiger auf windarme ausgewichen wird. Offshore-Anlagen erreichen bisweilen 4000 VLSt und vielleicht auch mehr. Bei Photovoltaik kann trivialerweise München (ca. 1010 VLSt) oder gar Hamburg (840 VLSt) nicht mit den Wüsten konkurrieren (Zahlen aus Wikipedia).
Bleibt die Frage nach den Kosten. In einer Studie des Hydrogen Council (Mc Kinsey & Company, February 2021) wird eine Kostendegression vor allem bei den Investitionskosten behauptet, die zu einer erheblichen Verminderung der Produktionskosten führen soll. So sollen die Kosten von derzeit 4 bis 5,5 USD/kg auf ca. 1,5 bis 2,5 USD/kg in 2030 fallen (Exhibit 6, Seite 12), zur Schätzung der Transportkosten definiert eine Studie von Roland Berger (Weichenhain, 10.2021):
- Large-scale harbour-to-harbour, ex: 73.000 t, Middle East nach Rotterdam per Schiff
- Mid-scale multimodal transportation, ex: 7.300 t von Rumänien via Binnenschiff und Bahn nach Burghausen
- Small-scale multimodal transportation, ex: 7.300 t von Terni (IT) nach Innsbruck via Bahn und LKW
- Small-scale truck-only transportation, ex 7.300t von Dormagen bis 200 km im Umkreis mit LKW
Von den drei untersuchten Transportzuständen (als Ammonium, LH2 oder LOHC) liegen die geschätzten Kosten (OPEX+CAPEX) für alle vier Archetypen und Bindung des H2 in LOHC bei 2,2 bis 2,8 €/kg H2, am größten ist die Spanne für LH2 mit 2,3 bis 4,7 €/kg H2.
Ohne auf die Frage der Zuverlässigkeit von Schätzungen zukünftiger Kosten eingehen zu wollen, bei Gesamtkosten von ca. 5 bis 6 €/kg lägen die Kosten von ca. 0,15 €/kWh in Konkurrenz mit Erdgas heute immer noch sehr hoch. Jede Beimengung von Wasserstoff müsste also den Strompreis erhöhen. Vor allem aber existiert die erforderliche Infrastruktur bislang nur als Konzept, und wenn die ersten Anlagen in einer Dekade operationell sein sollten, wäre das bereits überraschend schnell. Kurz- und mittelfristig ist „Sunshine-Shipping“ also auch keine echte Alternative bezüglich der Umsetzung der Kommissions-Verordnung.
4) Wasserstoff aus nuklearer Energie
Die Herstellung von Wasserstoff mittels Elektrolyse mit Strom aus Kernkraftwerken ist in der Verordnung 2021/2139 zwar nicht geregelt. Sofern aber die Kernkraft als grün eingestuft wird, muss es sich bei Wasserstoff aus diesen Kraftwerken folgerichtig auch um „grünen“ Wasserstoff handeln.
Aufschlussreich ist das Beispiel Frankreich (2020). Die Nuklearkraftwerke werden in den Sommermonaten von ihrer Leistung von 61 GW auf Leistungen bis unter 30 GW zurückgefahren (Abbildung 2). Da in Frankreich wie auch in Italien und Spanien, die beide Importeure französischen Stroms sind, viel mit Strom geheizt wird, ist dieser Rückgang systembedingt.
Die Auslastung könnte also durch die Produktion von Wasserstoff durch Elektrolyse insbesondere im Sommer erheblich gesteigert werden. Interessant ist der Vergleich des künftig „grünen“ Nuklearstroms in Frankreich mit dem Strom aus Wind in Deutschland (Abbildung 3). Bei etwa gleicher installierter Leistung ist die gelieferte Jahresarbeit 2,5-mal so hoch oder anders ausgedrückt: Um das Niveau der französischen Nuklearstroms zu erreichen, müsste Deutschland die Zahl der WEA von derzeit 31.000 auf etwa 80.000 erhöhen. Man stelle diese Zahlen den Aussagen des Wirtschaftsministers gegenüber.
Bei Annahme von 7000 VLSt könnten die AKWs mit 60,8 GW etwa 430 TWh erzeugen, von denen derzeit 334,3 TWh verbraucht werden. Es bleibt also in den Niedriglastzeiten eine Reserve von brutto rund 100 TWh für die „Grüngasproduktion“, die relativ kurzfristig verfügbar gemacht werden könnte. Die Menge entspricht etwa der, wie sie in der NWS genannt wird und reichte allenfalls für eine kurze Übergangszeit. Ob diese Menge allerdings für den Export nach Deutschland verfügbar wäre oder nicht vielmehr in Frankreich verbraucht würde, ist eine offene Frage.
Politische Konsequenzen
Für Deutschland ergeben sich hieraus einige wenig angenehme Konsequenzen:
- Mit dem sogenannten „Atomausstieg“ Ende 2022 wird Deutschland keine zuverlässige „grüne Stromversorgung“ mehr haben. Die VEE sind nicht nur in der Menge nicht ausreichend, sie gefährden auch die Netzstabilität. Diese muss durch die verbleibenden konventionellen, überwiegend also Kohlekraftwerke sichergestellt werden. Wenn diese „Systemdienstleistung“ systembedingt früher kostenfrei mitgeliefert wurde, werden die Kraftwerksbetreiber künftig eine Kompensation einfordern, weil sie wegen des Einspeiseprivilegs des EEG und der CO2-Steuer ihre Kosten durch den Stromverkauf nicht mehr decken können. Hinzu kommen die abgeschalteten, aber in Bereitschaft gehaltenen Kraftwerke, die unter wohlklingenden Bezeichnungen wie Kapazitätsreserve, Netzreserve und Sicherheitsbereitschaft bereits heute große Summen für nicht gelieferten Strom kosten (Hennig, 02/2022).
- Da die VEE nicht nur nicht sicher verfügbar sind, sondern auch die Strommenge nicht decken können, müssen die Kohlekraftwerke wohl vorerst am Netz bleiben. Das dürfte nicht nur bei der Wählerschaft der jetzigen politischen Mehrheit auf wenig Verständnis stoßen, die ja mit „Ende Gelände“ ihre Wahl bereits getroffen hat. Auch im Vergleich mit Frankreich wird bei der Dekarbonisierung aus dem deutschen Möchtegern-Musterknaben plötzlich der Klima-Buhmann.
- Sobald der Nuklearstrom als „grün“ eingestuft ist, ist zu vermuten, dass die EU ein Gemeinschaftsprogramm zum Bau neuer Kernkraftwerke auflegen wird. Auch der mit deutschen Mitteln von 250 Millionen Euro ausgestatte Fonds „Green Deal“ kommt hierfür in Frage. Unsere unmittelbaren Nachbarn haben bereits ihr Interesse am Bau eines sogenannten „Small Modular Reactor (SMR)“ bekundet. Deutschland wird dann indirekt an den Kosten der Reaktoren beteiligt, die es nicht haben will, die aber in der Nähe seiner Grenzen aus dem Boden schießen werden.
- Will Deutschland die Kohle durch Gas ersetzen, sind nicht nur völlig andere Kraftwerke nötig, sondern Verfahren wie CCS und die Beimengung „grünen“ Gases werden die Kosten in die Höhe treiben. Dass der „grüne“ Wasserstoff dann zu erheblichen Teilen aus französischem Atomstrom kommen könnte, wäre eine pikante Ironie des deutschen „Atomausstiegs“.
- Wie die Stellungname des BASE zeigt, wurde von der Politik bislang offenbar nur die vorgesehene Einstufung des Atomstroms als „grün“ bewertet und kritisiert. Dass die gesamte Industrie der Blockheizkraftwerke auf der Kippe steht und selbst die modernen GuD-Kraftwerke nur noch bedingt genehmigungsfähig sein werden, sollte in der Bundesregierung eigentlich Alarm auslösen.
- Unter besonderem Beschuss stehen die Braunkohlekraftwerke, obwohl sie die letzte unter nationaler Kontrolle stehende sichere Primärenergie nutzen. Die aktuelle Diskussion um Nord Stream 2 sowie diplomatische Differenzen mit Russland sollten eigentlich zu einer Neubewertung der Versorgungssicherheit führen, die zumindest in den Medien aber nicht erkennbar ist.
Das Jahr 2022 könnte also erhebliche Verwerfungen insbesondere im Strommarkt bringen. Wie die Bundesregierung darauf reagieren wird, dürfte uns als spannende Frage noch eine Weile erhalten bleiben.
Professor Dr.-Ing. Albrecht Pfaud, Wissembourg
Bei Rolf Schuster bedanke ich mich für die Bereitstellung der Grafiken.
Literaturverzeichnis:
- Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Die Nationale Wasserstoffstrategie, Berlin Juni 2020.
- Hackensberger, A., Wie Baerbock mit einem Fingerschnippen schaffte, woran ihr Vorgänger scheiterte, WELT vom 5. Januar 2022.
- Hennig, F., Die Stabilisierung des europäischen Stromnetzes gerät außer Tritt, Tichys Einblick (02/2022), Seiten 64 ff.
- Mc Kinsey & Company, Hydrogen Insights – A perspective on hydrogen investment, market development and cost competitiveness, Hydrogen Council, February 2021.
- Pfaud, A., Power to Gas und volatiler Strom – zwei ideale Partner? Energiewirtschaftliche Tagesfragen (ET), 9 – 2020, Seiten 23-29.
- Runge Ph, S. C., Economic compairison of electrc fuels produced at excellent locations for renewable energies – A Scenario for 2035, 2020.
- Weichenhain, U., Hydrogen Transportation – The Key to unlocking the clean hydrogen economy, München: Roland Berger GmbH, 10/2021.