Tichys Einblick
Industriestandort auf dem absteigenden Ast

Die Zielgerade zum Abgrund?

Alles wird gut, wenn wir uns nur etwas beeilen, sagt Klimaminister Habeck. Der Netzausbau müsse „ratzfatz“ gehen. Ideologisch ungefestigte Netzbetreiber, Versorger und Institute machen schlechte Stimmung. Selbst der Bundesrechnungshof weicht vom Regierungskurs durch unbotmäßige Kritik ab. Zweifel allerorten. Werden wir ein klimaneutrales Industrieland oder ein industrieneutrales Klimaland?

IMAGO

In hoher Schlagzahl erreichen uns Meldungen über den Verlauf der Energiewende in Form von Verlautbarungen des Klimaministeriums und von fachlich kundigen Organisationen. Selbst aufmerksamen Beobachtern droht der Überblick verloren zu gehen. Für eine fundierte Darstellung der gegenwärtigen Situation sollte im Grunde ein Verweis auf den Bericht des Bundesrechnungshofes vom 7. März des Jahres ausreichen. Wer sich die Zeit nimmt, die mehr als 50 Seiten in Ruhe zu lesen, weiß im Wesentlichen Bescheid darüber, wo wir stehen und warum der Kurs nicht erfolgreich sein wird. Dabei hat der Bundesrechnungshof nur das gemacht, was in seinem Namen steht – gerechnet. Das bringt am Ende Konkretes und lässt sich nicht mit wegdiskutieren. Im zuständigen Ministerium wird weniger gerechnet, man hält sich an die üblichen politischen Plattitüden wie Energiewendeturbo oder Wasserstoffrevolution.

Was im Bericht steht war absehbar in Fortführung des Berichts von 2021, in dem zahlreiche Risiken genannt worden waren. Als wesentliche Schwerpunkte werden diesmal benannt: Die unzureichende sichere Kraftwerksleistung, das Nichterreichen der Ausbauziele von „Erneuerbaren“ und das fehlende Monitoring der Kosten. Die Annahmen des Ministeriums zur Versorgungssicherheit seien „wirklichkeitsfremd“. Den nachhängenden Netzausbau gibt man wahlweise in den Maßeinheiten Jahre Verzug beziehungsweise fehlende Tausendkilometer an. Die Bezahlbarkeit wird in Frage gestellt, allein die Kosten des Netzausbaus werden auf schwindelerregende 460 Milliarden Euro bis 2045 beziffert. Im Grunde gäbe es einen Verstoß gegen den Paragrafen 1 des Energiewirtschaftsgesetzes, die Verpflichtung zur Versorgung mit preiswerter, sicherer und umweltfreundlicher Energie. Erstmalig mahnt man das Monitoring der Umweltauswirkungen an, mithin die Beantwortung der Frage, ob nicht mehr Schaden als Nutzen entsteht. Die Inanspruchnahme von Flächen und die Beeinträchtigung der Biodiversität seien zu beachten.

Minister Habeck reagierte auf den trockenen und faktenreichen Bericht wie ein trotziges Schulkind mit einem „schönen Dank auch“, den Umgang mit zahlenbasierter Kritik sind Grüne schlicht nicht gewöhnt. Auf einer BDEW-Veranstaltung in Cottbus schätzte er ein, dass man nun auf die Zielgerade der Energiewende eingebogen sei. Dass es eine Sackgasse ist, an deren Ende eine Wand steht, hat er noch nicht realisiert. Es sei notwendig, dass der Netzausbau nunmehr „ratzfatz“ gehen müsse. Diese kinderbuchgerechte Formulierung zeigt, dass neben dem Netzausbau auch die Realitätswahrnehmung des Ministers nachhängt. Wann in jüngerer Vergangenheit ging ein staatlich induziertes Projekt in Deutschland „ratzfatz“?

Die Zeit als Relativitätstheorie

Ein Blick zurück: Der Flughafen BER brauchte 14 Jahre statt geplanter 6, der Stuttgarter Hauptbahnhof wird es auf 15 Jahre bringen statt geplanter 9, das neue Schiffshebewerk in Niederfinow brauchte 14 Jahre, während sein Vorgänger in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts nach 7 Jahren Bauzeit in Betrieb ging. Die Sanierung einer vierspurigen Ausfallstraße in Cottbus, einen reichlichen Kilometer lang, soll drei Jahre in Anspruch nehmen. Ein Zeitraum, in dem die Chinesen einen mittelgroßen Flughafen bauen. Der Neubau der Köhlbrandbrücke in Hamburg ist nunmehr beschlossen, als Fertigstellungstermin wird 2046 genannt. Sollte der Termin gehalten werden, lade ich zum Neujahrstag 2047 zum Frühschoppen ein.
Vielleicht hatte Minister Habeck bei seiner „ratzfatz“-Geschwindigkeit die „Deutschlandgeschwindigkeit“ des Kanzlers im Ohr, die sich auf die neuen LNG-Terminals bezog. Mit Verlaub – wir haben immer noch keines, nur Schiffsanleger für die gemieteten Regasifizierungsschiffe (FSRU) und ein paar Kilometer Pipeline.

Der Regionalversorger Eon-edis veranschlagt für Planung, Genehmigung und Bau einer 110-Kilovolt-Hochspannungsleitung 8 bis 12 Jahre. Zu langsam für Tesla, jedenfalls für die Herstellung der üblichen so genannten n-1-Sicherheit (n-minus-eins). Die fehlende zweite Einspeisung führte deshalb zum Totalstillstand des Werkes nach dem Anschlag auf einen einzigen Masten. Zur Standortentscheidung Elon Musks soll das Versprechen der Brandenburger Landesregierung beigetragen haben, den Standort mit Ökostrom versorgen zu können. Eine spätere Anfrage im Landtag brachte allerdings die Aussage, dass die Strombeschaffung Sache des Investors sei und ein Industriestromvertrag mit dem regionalen Versorger bestehe.
Die Zeit reichte jedenfalls nicht für eine zweite Einspeisung. Den Bau eines eigenen Gaskraftwerkes aus Unzufriedenheit über den Strompreis scheint Tesla indes nicht weiter zu verfolgen. So konnte die revolutionäre Vulcan-Gruppe aktiv werden. Dass sich so genannte Klimaschützer zunehmend radikalisieren, hatte ich im Buch „Klimadämmerung“ im Kapitel „Future for Fridays“ schon beschrieben:

„Die Etablierung einer »Das Ende ist nah«-Kultur gefährdet den inneren Frieden und somit das ganze Land. Fähnchen schwenken wird den Kindern und Jugendlichen bald nicht mehr reichen. Greta Thunberg zeigte sich im Hambacher Forst mit Vermummten. Aktivitäten sind angesagt, gefährliche Sekten haben Zulauf. »Ende Gelände«, »Extinction Rebellion« und weitere nehmen gewalttätig pro forma den Klima-Umweg, um das System zu ändern.“

Hendryk M. Broder hatte es schon vorher auf den Punkt gebracht: »Wer es schafft, mit Hilfe apokalyptischer Visionen eine globale Massenhysterie zu entfachen, der wird sich auf die Dauer nicht mit dem Kampf gegen das CO2 zufrieden geben.«

Minister Habeck sieht die Senkung von Emissionen als seine Hauptaufgabe an. So feiert er als Wirtschaftsminister die Erreichung der CO2-Ziele als Erfolg, obwohl dies vor allem durch wirtschaftlichen Abstieg erreicht wurde. Der seltsame Begriff eines Standortpatriotismus, gerade aus seinem Munde, weckt Irritation. Patriotismus und Wirtschaft sind verschiedene Kategorien, egal ob es sich um energieintensive Industrie oder den Ausrüster der Fußball-Nationalmannschaften handelt. Die Solarindustrie einschließlich des damit verbundenen Solarglasherstellers in Tschernitz (Brandenburg) wandern auf Grund hoher Energiepreise und Arbeitskosten ab oder droht damit. Immerhin sinken dann die Emissionen.

Einen Zielkonflikt kann der Minister offenbar nicht erkennen. In seinem Übermut fordert er sogar wieder den Rückbau der Gasnetze unter dem Vorwand, Fehlinvestitionen müssten „bis zur Klimaneutralität“ vermieden werden. Anstelle diese abzuwarten und die Gasleitungen zur Sicherheit bestehen zu lassen, folgt er der grünen Methode, zuerst abzuschalten und rückzubauen, bevor Alternativen belastbar zur Verfügung stehen. Der Geist Graichens schwebt offenbar noch immer durch die Flure des Ministeriums und treibt den Minister vor sich her.
Habeck erklärt die Energiekrise für beendet und die Versorgung für sicher, wohl aus dem Grund, dass derzeit die Gasspeicher noch zu über 65 Prozent gefüllt sind. Dass die jüngste Ausschreibung „Wind an Land“ wieder unterzeichnet war und die ehrgeizigen und unrealistischen Ideen aus dem „Osterpaket“ des vergangenen Jahres Makulatur sind, dringt offenbar nicht zum Minister vor. Sichere Erzeugung und der Bedarf von Energie laufen weiter auseinander, nicht einmal der Zubau von Zufallsstromerzeugern läuft nach grünen Wunschvorstellungen.

Von der Seitenline

Derweil kommen massiv Einwürfe unangenehmer Art von der Seitenlinie, so von McKinsey mit der Studie „Zukunftspfad Stromversorgung“. Dort errechnet man ein Sparpotenzial von 20 Prozent bei einem viel geringeren Zubau an Photovoltaik (PV). Das wäre genau das Gegenteil vom exzessiven Ausbau, der von der Regierung verfolgt wird.

Während Eon-Chef Leonhard Birnbaum aussagt, dass die Reserven im System aufgebraucht sind, kündigte RWE-Chef Krebber die nächsten fünf Abschaltungen an. Das ist an sich keine Überraschung, denn es handelt sich bei dreien um die Braunkohlekraftwerke, die ehemals in die so genannte Sicherheitsbereitschaft versetzt worden waren, aber aus Anlass des Ukraine-Krieges reaktiviert wurden. Sie werden nun endgültig stillgelegt, plus der zwei bei LEAG in der Lausitz. Bei zwei weiteren waren die Laufzeiten verlängert worden. Etwa 3.100 Megawatt gesicherte Kapazität entfallen, zusätzlich nehmen Steinkohlekraftwerke ihre ersteigerten Stilllegungstermine wahr. Inbetriebnahmen neuer Blöcke gibt es nicht.
Stromimporte von 15 Gigawatt und mehr sind im Tagesverlauf inzwischen häufig der Fall und wir schalten weiter ab.

Doktor Werner Götz von TransnetBW, dem Übertragungsnetzbetreiber im Südwesten, sieht es für nötig an, dass das Netz nicht nur ausgebaut, sondern auch betreibbar bleiben muss. Offenbar ist das heute nicht mehr selbstverständlich. Mirjam König ist ebenfalls bei TransnetBW angestellt und weist auf die Studie „Systemstabilität heute und bis 2030“ hin. Es seien bei der Untersuchung Zustände gefunden worden, in denen ein n-1-Fehler für ein Systemversagen ausreichen würde – siehe Tesla. Das heißt, schon bei Ausfall einer Leitung könnte das Netz aus dem Gleichgewicht geraten. Dabei ist die n-1-Sicherheit ein Grundprinzip der Netzplanung.

Katherina Reiche, Chefin des größten Verteilnetzbetreibers Westnetz, warnt vor enormen Versorgungslücken bei einem Kohleausstieg 2030. Bis zu hundert Abschaltungen pro Jahr seien möglich, die über 20 Stunden dauern könnten. Bis 2050 würden Investitionen von rund fünf Billionen Euro auflaufen, um Klimaneutralität zu erreichen.

Eon-Chef Leonhard Birnbaum macht das Erreichen der Ausbauziele der Windkraft vom Netzausbau abhängig. Im Grunde fordert er eine Ausbaubremse, ein Moratorium des Zubaus der „Erneuerbaren“, um den Netzausbau zu synchronisieren. Man könnte es auch „Moratorium“ nennen, wie ich es im Buch „Dunkelflaute“ vor sieben Jahren beschrieb.

Dem Morgengrün entgegen

Unbeirrt davon hielt Minister Habeck eine einigermaßen verwirrende Rede auf dem Kongress „Zukunft Mittelstand 2024“ mit der Aussage, dass der Staat keine Fehler mache. Er feierte den Bürokratieabbau bei der Photovoltaik, in anderen Branchen scheint er dies nicht als nötig anzusehen. Im Gegenteil, über „Klimaschutzverträge“ sollen Subventionen versteigert werden. Ein erstes Gebotsverfahren ist eingeleitet worden. Nötig sind also Ausschreibungsunterlagen, Gebote, Entscheidungen, Personal. Das ganze zusätzlich zu den bürokratischen Aufwänden für den Emissionshandel und diversen Subventionstatbeständen. Der postulierte Bürokratieabbau ist nur Ablenkung.

Zwei Drittel der Deutschen haben Zukunftsängste, und das sind keine Klimaängste.
Der Europarat konstatiert eine hohe Armutsquote, Wohnungsnot und Obdachlosigkeit in Deutschland. Ein merkwürdiger Chor singt im Hintergrund immer noch vom Land, in dem wir gut und gern leben, wo alle reich sind und wo alle noch etwas abgeben könnten. Auch hier sagen die Zahlen anderes. Viele verlassen das Land, um gut zu leben. Auch die Präambel des Grundgesetzes, wonach Deutschland dem Frieden der Welt dienen wolle, hat keinen Wert mehr.
An die Stelle der Artikel des Grundgesetzes ist das mystisch überhöhte Ziel einer „Großen Transformation“ getreten. Kanzlerin Merkel sagte vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar 2020:

„Aber, meine Damen und Herren, das sind natürlich Transformationen von gigantischem, historischem Ausmaß. Diese Transformation bedeutet im Grunde, die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, in den nächsten 30 Jahren zu verlassen . . .“

Einzelheiten nannte sie nicht, hatte aber vermutlich den „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ im Blick, den ihr Haus- und Hofklimatologe Schellnhuber und andere bereits 2011 verfasst hatten. Auch hier lohnt sich die Lektüre, die zur Erkenntnis führt, dass eine solche Transformation inklusive einer brutalen Dekarbonisierung auf dem Boden des Grundgesetzes nicht möglich ist. Die Leerformel „wir schaffen das“ hilft mit solcher Zielbeschreibung nicht weiter.

Wo geht es hin? Ein Land, in dem Kinder und Katzen primär als Klimaproblem gesehen werden, ist nicht zukunftsfähig. Die Zuwanderung wird ab- und die Abwanderung zunehmen. Ausländische Konzerne werden holen, was noch zu holen ist, die einheimischen gehen ins Ausland. Nun werden sie halt weg sein, die Arbeitsplätze. Zurück bleiben aussterbende Boomer und eine in Teilen begrenzt lebenstüchtige Generation Z. Früher glaubte jede neue Generation, sie werde die erste sein, die die Welt wirklich verbessert. Heute glauben einige der neuen Generation, mit ihr gehe sie zu Ende.

Wir werden weiter verunsichernde Informationen aus der deutschen Energiewendewunderwelt erhalten. Wie das Ende der Habeckschen Zielgerade genau aussehen wird, ist noch unbekannt.


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