Kurz vor Schluss sucht Bundeskanzlerin Angela Merkel plötzlich Argumente und Zahlen für ihr früheres Handeln: Auf dem „Tag der Industrie“ beim Industrieverband BDI Ende Juni in Berlin forderte die Kanzlerin eine Prognose für den Strombedarf 2030. „Wir brauchen kluge Berechnungen“, sagte Angela Merkel dort. Warum, so fragt man sich, macht die niemand, allen voran das zuständige Bundeswirtschaftsministerium? Wer bisher vermutete, die Energiewende folge einem ausgeklügelten, abgewogenen und umsichtigen Plan, der muss jetzt erkennen, dass sie nichts anderes ist als ein laienhaftes Trial-and-Error. Merkel hat Entscheidungen getroffen, ohne die geringste Ahnung von den Folgen zu haben. Das zeigt sich beispielsweise in Hamburg.
Wie Hamburg die dortige Industrie abschaltet und abkassiert
Ortswechsel. Die Hamburger verfügen traditionell über ein gelassenes und sonniges Gemüt. Wir erinnern uns an die Vorbereitung des G-7-Gipfels 2017. Den verglich der damalige Erste Bürgermeister Olaf Scholz mit einem Hafengeburtstag. Als das hochmoderne Steinkohlekraftwerk Moorburg den Zuschlag zur Abschaltung nach der ersten Ausschreibungsrunde der Bundesnetzagentur (BNA) erhalten hatte, freute sich der Senat, allen voran der grüne Umweltsenator: Es sei eine gute Nachricht für den Klimaschutz – und ein Erfolg grüner Klimapolitik.
Nun fällt dem aktuellen Ersten Peter Tschentscher (SPD) auf, dass der „Erfolg“ in steigenden Industriestrompreisen infolge höherer Netzentgelte besteht; denn diese stehen im Zusammenhang mit der Entfernung des Betriebs zum nächsten grundlastfähigen Kraftwerk, dem sogenannten „physischen Pfad“. Mit dem Wegfall von Moorburg verdoppeln sich nun zum Beispiel für den Großverbraucher Trimet-Aluminium die Netzentgelte, weil Strom über einen weiten Weg herangeführt werden muss. Ein studierter Volkswirtschaftler wie Umweltsenator Jens Kerstan weiß das wohl nicht.
Entfernungsabhängige Netzentgelte
Die Entfernung von der Stromquelle Moorburg zur -senke Trimet betrug knapp fünf Kilometer (Luftlinie), entsprechend günstig waren die Netzentgelte. Nun ist der nächstgelegene grundlastfähige Großerzeuger das Kernkraftwerk Brokdorf an der Unterelbe (53 Kilometer), das Ende 2021 seinen Betrieb allerdings ebenfalls einstellt. Dann wird der Strom vor allem aus dem Kraftwerk Bremen-Farge (98 Kilometer) kommen, das jedoch in der dritten Ausschreibungsrunde „gewonnen“ hat und zum November 2022 außer Betrieb gehen wird. Ein Brennstoffwechsel zu Altholz führt derzeit zu Kontroversen und wird, falls realisiert, zunächst einen längeren Stillstand erfordern.
Zusätzlich zur massiven Schwächung der Erzeugungsseite kommt das Vorhaben, auf dem Gelände des jetzigen Kraftwerks Moorburg eine große Elektrolyse-Anlage zu errichten, mithin den Stromverbrauch zu erhöhen. Hamburg beherbergt das größte zusammenhängende Industriegebiet Deutschlands, zudem soll künftig der Norden den Strom für den Süden liefern. Wer wird künftig die Leitungen absichern, die mal mehr, mal weniger Strom von der Nordsee an die Alpen bringen sollen? Aber wir haben doch Nordlink, die 1,4-Gigawatt-Leitung, die uns mit Norwegen, der „Batterie Europas“, verbindet, werden wir dann beruhigt. Selbst wenn Norwegen durchgehend lieferte, wäre das nur der Ersatz für Brokdorf. Die Norweger handeln vernunftbestimmt und werden ihre Wasserreserven für den Winter nicht für deutsche Windschwäche verplätschern und zeitweise erratisch erzeugten deutschen Windstrom importieren.
Sie werden vielmehr umsichtig Preisdifferenzgeschäfte tätigen, also billigen deutschen Strom bei Öko-Überangebot importieren und die Zwangslage der Deutschen bei wenig Wind und Sonne nutzen, um mit guten Preisen zu verdienen. Mit den Niederlanden, Großbritannien, Dänemark und Schweden stehen weitere Handelspartner zur Optimierung des Geschäfts bereit. Sie alle brauchen unseren Windstrom nicht.
Der Kostenanstieg sei von der Bundesregierung im Kohleausstiegsgesetz „nicht vorhergesehen“ worden, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung, was ein bezeichnendes Licht auf das handelnde Personal wirft. Dass die Kohlekommission mit Leuten besetzt war, die sich bezüglich infrastruktureller Kenntnisse als unterbelichtet erwiesen, ist kein Geheimnis, aber auch Bundeswirtschaftsministerium und Bundesnetzagentur bedenken die Folgen offenbar nicht.
Interessenverbände wie der schon genannte BDI, aber auch andere wie die IG Metall scheinen im Schlaf der Gerechten zu schlummern. Auch hoch bezahlten Funktionären ging offenbar der Überblick über die Nebenwirkungen der Energiewende verloren. Einzig der VIK (Verband der industriellen Energie- & Kraftwirtschaft) macht das Thema in einer Stellungnahme öffentlich: Hat das niemand kommen sehen?
Selbst wenn dieses neue, aber folgerichtige Problem wieder mit Steuergeld zugeschüttet werden sollte, dürfte es nicht gelingen, den staatsplanerischen Ansatz der Energiewirtschaft auf die europäische Ebene zu heben. Dort wirkt im liberalisierten Strommarkt weiterhin das Prinzip von Angebot und Nachfrage, das die Preise bestimmt. Diese sprechen im Großhandel eine deutliche Sprache. Die deutschen Abschaltungen verringern das Angebot und bewirken nicht nur bei uns steigende Preise, sondern in ganz Europa. Dazu kommen stark gestiegene CO2-Kosten. Dümpelte der Börsenstrompreis im April 2020, zu Hochzeiten der Pandemie, noch um etwa zwölf Euro pro Megawattstunde, sind wir heute bei etwa 80 Euro angekommen. Tendenz: steigend.
„Entlastung“ ein leeres Versprechen
Den Bürgern sagen die Minister Scholz und Altmaier eine Entlastung zu, indem sie die Abschaffung der EEG-Umlage in Aussicht stellen. Das ist schön. Die Treiber künftiger Preiserhöhungen werden aber die Netzentgelte und die Großhandelspreise sein, sodass die im Gegenzug zur CO2-Steuer versprochene Absenkung auf der Rechnung der Kilowattstunde nicht eintreten wird. Die obendrein anziehende Inflation wird den Bürgern eine neue Bescheidenheit abverlangen.
RWE und EnBW als ehemalige Versorger verdienen ihr Geld zunehmend im Ausland, in Deutschland werden noch ein paar Ladesäulen für die E-Mobilität und die PR installiert. Wo der Strom für diese dann herkommt, ist nicht das Problem der Konzerne. An einer stabilen Stromversorgung in Deutschland sind sie nur noch am Rande interessiert. Dass die Versorgungssicherheit künftig der Staat sicherstellen soll, bereitet jedenfalls Sorgen.
Die Rechnung, bitte, heißt es nun. Nicht nur Hamburg wird – durch eigene Entscheidungen – künftig mit hohen Preisen und einer zeitweiligen Unterdeckung im Netz leben müssen.