Der Kampf um die Deutungshoheit über die Ursachen der Energiekrise ist entbrannt. Die Gefahr einer Stromknappheit droht liebgewonnene Überzeugungen in der Energiepolitik – insbesondere in Europa – zu gefährden. Medial muss das Feld daher besetzt werden, bevor Zweifel am bisherigen Kurs aufkommen könnten. Exemplarisch festigte die Deutsche Welle am 29. September die deutschen Gewissheiten, als sie davor warnte, dass europäische Politiker versuchten, die Energiekrise zu „instrumentalisieren“. Die Energiekrise sei vor allem dem Klimawandel geschuldet: der kalte und lange Winter haben den Gasbedarf erhöht, während die Gasförderung erschwert wurde. Die hohen Gaspreise seien nur durch einen konsequenteren Ausbau der „Erneuerbaren Energien“ in Zukunft zu vermeiden. Dass die Energiekrise zugunsten des grünen Umbaus der europäischen Energienetze instrumentalisiert werden könnte – ein Schelm, der Böses dabei denkt.
Die russische Rolle ist weiterhin eine ungewisse. Die Vermutung kursiert, Wladimir Putin könnte Gas zurückhalten, um die Genehmigung der Inbetriebnahme der Nord-Stream 2-Pipeline zu forcieren. Ein Drittel des kontinentaleuropäischen Gases stammt aus Russland. Doch die Argumentation ist zweischneidig. Russland stellt sich auf den Standpunkt, dass die Europäische Union ihre Mitgliedsstaaten dazu ermuntert hätte, keine Langzeitverträge über Gasimporte abzuschließen, sondern im Sinne einer Energiebörse Gas dann zu kaufen, wenn dieses billig sei. Die größere Marktfreiheit hat jetzt zu einer explosionsartigen Verteuerung geführt – denn die Erschließung und der Bau von Förderanlagen ist ein langwieriges und kostenreiches Geschäft. Dem chinesisch-russischen Pakt, der sibirisches Gas ins Reich der Mitte pumpt, gingen jahrelange Planungen voraus. Die Gaskonzerne brauchen die Zusicherung, dass das in Zukunft geförderte Gas auch seine Abnehmer findet.
Putin hat sich deswegen über die „Schlauberger“ in der Europäischen Kommission lustig gemacht: sie hätten mit ihrer Idee von dynamischen Marktpreisen die Gaskrise selbst herbeigeführt. Die Financial Times zitiert einen Manager: „Die Russische Sicht ist die, dass die EU sich diese Welt gewünscht hat. Jetzt dürfen sie die gerne genießen.“ Gazprom will nur seinen in den Langzeit-Verträgen zugesicherten Pflichten nachkommen. Moskau fülle seine Speicher für die Sicherung der eigenen Wirtschaft und habe keine Kapazitäten mehr für weiteren Export. Es ist unklar, wie viel Wahrheit darin steckt. Möglicherweise will Putin sich auch besser bezahlen lassen – nicht in Rubel, sondern in politischer Währung.
Auf der anderen Seite haben die Europäer offensichtlich den steigenden Ressourcenbedarf Asiens unterschätzt. Allein China hat seinen Gas-Verbrauch im letzten Jahrzehnt verdreifacht. Flüssiggas aus Übersee – etwa den USA – galt lange als doppeltes Netz in der Gasversorgung, sollte Europa Nachschub benötigen. Doch diese Sicherheit ist weggefallen: Die Chinesen zahlen bessere Preise als die Europäer. China hat mit seinem Staatskapitalismus zudem größere Freiheiten, den Konkurrenten die Ressourcen vor der Nase wegzukaufen und zu lagern als die marktwirtschaftlich orientierten Regierungen des Westens.
Die Energiekrise offenbart demnach eine dreifache Abhängigkeit des Kontinents von äußeren Einflüssen: erstens von den Naturelementen, die Wind-, Wasser-, und Sonnenenergie erheblich beschränken können; zweitens von dem Import aus Russland; drittens vom außereuropäischen Hunger nach Energie, namentlich dem chinesischen Verbrauch. Es sind Faktoren, denen sich Europa hilflos ausgeliefert hat – und es sind zugleich Faktoren, die nicht autonom sind, sondern teilweise eng verknüpft sind. Der europäische Hunger nach Gas stieg, als Gas von vielen Regierungen als „Brücke“ gesehen wurde, bis die „Energiewende“ umgesetzt sei. Heißt: Paradoxerweise hat die Förderung der „Erneuerbaren“ den „Run aufs Gas“ verschlimmert. Andererseits hat die EU Russland in die Hände Chinas getrieben, insbesondere nach den Sanktionen, die als Reaktion auf die Krim-Krise verhängt wurden.
Das Paradoxon, dass die Energiewende zur Gas-Renaissance geführt und Europa eher abhängig, denn autonom gemacht hat, betont insbesondere ein Beitrag der Zeitschrift Foreign Policy von Brenda Shaffer. Sie sieht das Desaster von den Europäern selbst verursacht, weil sie die Energiepolitik der Klimapolitik untergeordnet haben – und sich nicht mehr an der „Geopolitik der Energie“ beteiligten: „In der Vergangenheit hat die EU die Energiesicherheit erfolgreich verbessert, indem sie das interne Gasleitungsnetz des Blocks ausgebaut und neue Versorgungsprojekte wie den Südlichen Gaskorridor vom Kaspischen Meer begrüßt hat. All dies hat die Sicherheit der europäischen Gasversorgung erhöht und Russlands Monopol vielerorts gebrochen. Die derzeitige Europäische Kommission hat die Energiepolitik jedoch zu einem bloßen Teilbereich der Klimapolitik gemacht, wobei der Versorgungssicherheit oder der Bezahlbarkeit der Energie wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.“
Die Autorin fasst damit die abschreckende Energiepolitik des „alten Kontinents“ luzide zusammen, deren Vorreiter Deutschland ist. Die Fokussierung der Medien auf die fossilen Brennstoffe als Ursache der hohen Energiepreise klammert aus, dass Deutschland schon zuvor die höchsten Stromkosten hatte. Die Energiekrise ist nicht die Chance auf eine europaweite Energiewende, sondern der Beleg ihres Scheiterns. Nicht der Handel mit Russland, sondern die Unfähigkeit, alternative Erzeuger an das europäische Netz zu binden (Stichwort: Nabucco-Pipeline) sind der eigentliche Grund der Abhängigkeit. Während die Kernkraft weltweit ausgebaut wird, soll sie hierzulande eingemottet werden. Europa treibt sich mit seiner Ideologie in den Blackout – und Deutschland geht fahnenschwenkend voran.