Tichys Einblick
Ein "Experiment"

Das ABC von Energiewende und Grünsprech 97 – Leitungsvorhaben

Mit dem Entwurf des Netzentwicklungsplans (NEP) Strom 2035 unternimmt die Bundesnetzagentur einen erneuten Versuch, mit erweitertem Netzausbau dem stets schneller voranschreitenden Zubau der Zufallsstromerzeuger zu folgen.

Täglich werden wir mit Begriffen konfrontiert, die im Ergebnis einer als alternativlos gepriesenen Energiewende verwendet werden oder durch sie erst entstanden sind. Wir greifen auch Bezeichnungen auf, die in der allgemeinen Vergrünung in den Alltagsgebrauch überzugehen drohen – in nichtalphabetischer Reihenfolge.

L, wie

Leitungsvorhaben, das

Der Begriff „Leitungsvorhaben“ könnte auch die Planung einer Firmenleitung meinen, in diesem Fall geht es jedoch um echte Leitungen, also Leiterseile, Kabel, einfach gesagt dicke Drähte. Nachdem der oberste Energiewender Peter Altmaier bereits kurz nach Amtsantritt 2018 feststellte, der Netzausbau sei „katastrophal in Verzug“, begab er sich auf mehrere „Netzreisen“. Auf diesen versuchte er den protestierenden Bürgern Sinn und Zweck des umfangreichen Netzausbaus zu erklären. Inzwischen thematisiert er den Verzug nicht mehr, es würde auf ihn zurück fallen. Von insgesamt etwa 5.868 Kilometern Leitungslänge nach Bundesbedarfsplangesetz sind 511 Kilometer fertiggestellt und 254 Kilometer genehmigt oder im Bau.

Weitgehend unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung erschien am 29. Januar der neueste Entwurf des Netzentwicklungsplans (NEP) Strom 2035. Neben den bekannten Vorhaben sind 35 neue Projekte im Kostenumfang von 17,3 Milliarden Euro enthalten. Insgesamt dürften die Netzausbaukosten die 100-Milliarden-Marke knacken. Ursache ist vor allem der verpflichtende Anschluss von Zufallsstromerzeugern weitab der Verbrauchszentren. Dieses NEP bildet die Basis für ein ganzes Gesetzes- und Verordnungskonvolut, bestehend aus Bundesbedarfsplangesetz (BBPlG), Energieleitungsausbaugesetz (EnLAG), Netzausbaubeschleunigungsgesetz (NABEG), Windseegesetz (WindSeeG) im Zusammenhang mit dem Flächenentwicklungsplan (FEP) des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH). Die Aufzählung ist nicht abschließend.

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Der nachhängende Netzausbau hat Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit. Die Stellungnahme der „Expertenkommission zum Monitoring-Prozess Energie der Zukunft“, die Holger Douglas hier eingehend beschrieb, erkennt Unsicherheiten im Hinblick auf die Ziele Preiswürdigkeit, Versorgungssicherheit und Akzeptanz. Bei der Versorgungssicherheit blieben die erheblichen Defizite beim Ausbau der Stromnetze bestehen. Dafür vergibt die Kommission in der Zusammenfassung die Ampelfarbe Rot. Absehbar ist also, dass gesetzlich vorgeschriebene Abschaltungen von Kraftwerken zusammentreffen werden mit einem unzureichenden Netzausbau.

Einen wachsweichen Rat geben die Kommissionsmitglieder der Bundesregierung auch mit auf den Weg. Gas und Wasserstoff würden eine immer wichtigere Rolle für die Versorgungssicherheit spielen und sollten in den Monitoring-Bericht der Bundesregierung Eingang finden. Dass dieser Zug betreffs entfallenden Kohle- und Atomstroms bereits abgefahren ist, haben die Herrschaften im Elfenbeinturm noch nicht bemerkt.

Ein dichteres Stromnetz erhöht unzweifelhaft die Versorgungssicherheit, allerdings sollte auch klar sein, wer dieses Netz sicher bedient, das heißt einspeist. Manifest herrscht bei unseren Entscheidern die Meinung vor, Ausbaukorridore an Wind- und Solarkapazität würden künftig, je breiter desto besser, Versorgungsicherheit liefern können. Der Blick auf die Zahlen ist ernüchternd. Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter waren die vier Feinde des Realsozialismus in der weltweit besten und einzigen, aber dennoch untergegangenen DDR. Diese vier Konterrevolutionäre stehen auch der staatlich geplanten Energiewende von heute im Weg. Trotz steigender installierter Leistung von Wind- und Solaranlagen steigen die Erträge nicht wie erwartet. Der Januar 2021 war geradezu ein Verräter an der guten Sache. Die Windstromproduktion ging auf 11.865 Gigawattstunden (GWh) zurück, 19 Prozent weniger als 2018, obwohl die installierte Nennleistung zu diesem Vergleichsmonat um 12 Prozent stieg.

Ähnlich beim Sonnenstrom, der in diesem Monat hoher Last ohnehin so gut wie ausfällt. Wurden 2018 aus 42.983 MW installierter Leistung noch 736 GWh erzeugt (ein knapper halber Tagesbedarf Deutschlands), waren es 2021 nur 613 GWh – 17 Prozent weniger trotz 25 Prozent mehr installierter Leistung (53.867 MW) (Daten aus: Rolf Schuster, Vernunftkraft). Dass auch breite Korridore ziemlich leer sein können, hat dem Bundeswirtschaftsminister wohl noch niemand gesagt.

Zunächst kostet der unzureichende Netzausbau „nur“ viel Geld für die Netz- und Systemsicherheitsmaßnahmen (Redispatch, Reservekraftwerke, Einspeise-management und Anpassungsmaßnahmen). Im Jahr 2019 waren 1,2 Milliarden Euro fällig. Dennoch gelingt es nicht, die Qualität im Netzbetrieb zu halten. 47 Prozent der Mitgliedsunternehmen des Familienunternehmer-Verbandes klagen über Netzschwankungen und Stromausfälle. Viele brauchen eine Versorgungsgarantie im Millisekundenbereich, denn auch kleine „Wischer“ können hochmodernen Anlagen schaden.

Spannend und zunehmend spannungslos
Das ABC von Energiewende- und Grünsprech 96: Spitzenglättung
Auf Regierungsebene tut man das Thema Versorgungssicherheit mit Plattitüden ab. Jede Frage zu fehlenden Speichern wird mit dem Zauberwort „grüner Wasserstoff“ beantwortet, ohne auch nur die Vorstellung einer Zeitschiene zu dessen Verfügbarkeit zu haben. Minister Altmaier will das Thema Wasserstoff „fliegen sehen“, zudem will er einfach „weniger Strom exportieren“. Staatssekretärin Winkelmeier-Becker sprach in der Fragestunde im Bundestag am 14. Januar von einer großen Aufgabe, einem nicht ganz einfachen Umbau. Die Speicherproblematik werde ein wichtiger Bereich sein, auf Wasserstoff lägen große Hoffnungen und es käme durch Solarstrom hergestellter Wasserstoff aus Chile.

Die Energiewende in ihrem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf, möchte man im Honecker-Duktus formulieren angesichts unseres wohl größten staatsplanerischen Vorhabens. Ob Ochs und Esel allerdings in die richtige Richtung laufen, ist ungewiss. Professor Fratzscher vom DIW spricht von einem „Experiment“ (in seinem Buch „Die Deutschland-Illusion“, S. 96).

Minister Altmaier bezeichnete Offshore-Windkraftanlagen als „Kathedralen der Industriekultur“. Vielleicht nähert man sich dem Thema Energiewende besser religiös und kulturell statt rational. Egal, wer Minister Altmaier im Herbst im Amt folgen wird, er (oder sie) sollte fest im Glauben sein. Dann sind Ochs und Esel nicht aufzuhalten.


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