Tichys Einblick
Fliegen müsste man können

Auch in Zukunft mobil

Ein Silicon Valley hierzulande erzwingen zu wollen, scheint weniger erfolgsversprechend, als die Potentiale zu fördern, die wir schon haben. Sollte das Mutterland des fahrenden nicht auch anstreben, das des fliegenden Automobils zu werden?

Die Bahn kam nicht. Erst wurde der Zug mit fünf Minuten Verspätung angezeigt, dann mit fünfzehn. Als sich der Wert auf vierzig steigerte, stieg ich wieder in mein Auto. Leider aber sorgten eine Großveranstaltung, Baustellen und mehrere Unfällen für Stillstand auf den Straßen. Die Distanz von nur dreißig Kilometern zu meinem Bestimmungsort war in einer annehmbaren Zeit nicht zu überbrücken – im hochindustrialisierten Deutschland des 21. Jahrhunderts.

Situationen dieser Art erlebe ich seit einigen Jahren immer häufiger. Unsere Mobilitätssysteme stoßen angesichts stetig steigender Bedarfe für den Personen- und Gütertransport an ihre Grenzen. Die meisten derzeit populären Vorstellungen über ihre Zukunft ignorieren diese Entwicklung. In der geschilderten Situation hätte mir ein Uber-Taxi ebensowenig geholfen, wie ein Elektrofahrzeug oder ein Roboterauto. Der Fahrplan auf dem Handy und die Möglichkeit des Online-Tickets nutzen nichts bei Signalstörungen, defekten Triebwagen, vereisten Gleisen oder eingefrorenen Weichen. Da kann man noch so viel von „intermodaler Vernetzung“ schwärmen oder von Car-Sharing, wenn die Bahn nicht kommt, kommt sie nicht und wenn die Straßen verstopft sind, hilft statt eines Navis am Ende nur die Ortskenntnis über benutzbare Feldwege.

Fliegen müsste man können

Fliegen müsste man können. Einfach ein kleines Fluggerät aus der Garage rollen, einsteigen, starten und durch die Luft ohne Umwege und Behinderungen, ohne die Abhängigkeit von Fahr- oder Flugplänen direkt sein Ziel ansteuern. Eine Utopie?
Heute sind Flugzeuge das Mittel der Wahl für lange Strecken, denn kein Transportsystem ist bei sehr hohen Geschwindigkeiten effizienter. Aber sie müssen mindestens eine Geschwindigkeit erreichen, bei der der an den Flügeln entstehende Auftrieb die Gewichtskraft aufhebt. Eine entsprechend lange Beschleunigungsstrecke für den Start ist erforderlich. Auch die Landung erfolgt mit hohem Tempo und gleicht eher einem kontrollierten Absturz. Daraus ergeben sich ungünstige Randbedingungen für die Infrastruktur – selbst Kleinflugzeuge benötigen Start- und Landebahnen von mehreren hundert Metern Länge – und hohe Anforderungen an die Piloten.

Vor allem letzteres bewog den Spanier Juan de la Cierva in den 1920er Jahren zur Entwicklung eines Fluggerätes, das keine Mindestgeschwindigkeit aufweist, bei deren Unterschreiten ein Auftriebsverlust droht. Der von ihm erdachte Tragschrauber scheint auf den ersten Blick einem Hubschrauber ähnlich zu sein, funktioniert aber ganz anders. Zum Vortrieb dient ein Heckpropeller, der allein durch den Fahrtwind in Bewegung gesetzte Rotor erzeugt nur den Auftrieb. Eine spezielle Auslegung der Rotorblätter ermöglicht die sogenannte „Autorotation“. Dieser Begriff beschreibt die Fähigkeit des Rotors, durch die Veränderung des Anstellwinkels in einem großen Geschwindigkeitsbereich immer eine ausreichende Auftriebskraft zu erzeugen. Man kann mit einem Tragschrauber nicht nur schnell, sondern auch sehr langsam fliegen, das ist seine Besonderheit. Weniger als hundert Meter Strecke genügen zum Starten und weniger als zehn Meter zum Landen. Die Mechanik ist vergleichsweise simpel. Einfacher, so sagte es mir einmal ein Luftfahrt-Professor des DLR sinngemäß, könne man nicht in die Luft gehen. Und wer schon einmal mit einem Gyrocopter unterwegs war, den wird das Flugerlebnis begeistern. Man spürt keine Turbulenzen, es ist tatsächlich wie Autofahren in der Luft.

Nach anfänglichen Erfolgen und ersten gewerblichen Einsätzen in den 1930er Jahren geriet diese Technologie nach dem Zweiten Weltkrieg vollkommen in Vergessenheit. Selbst der Auftritt von „Little Nellie“ im James-Bond-Streifen „Man lebt nur zweimal“ von 1967 konnte daran nichts ändern. Gyrocopter blieben die Domäne von Bastlern und Garagenerfindern, die ihre Einzelstücke gelegentlich auf Flugshows vorführten, ohne aber großes Interesse zu wecken. Bis der Ingenieur Otmar Birkner Ende der 1990er Jahre in einen Tragschrauber einstieg.

Im Jahr 1999 gründete dieser ein Unternehmen und entwickelt gemeinsam mit zwei Mitstreitern ein erstes, eigenes Modell. Für das es in Deutschland noch nicht einmal ein Zulassungsverfahren gab. Auch dies gestaltete Birkner in Zusammenarbeit mit dem Luftfahrtbundesamt und den für die Ultraleichtfliegerei zuständigen Verbänden DULV („Deutscher Ultraleichtflugverband“) und DAeC („Deutscher Aeroclub“) neu. In 2003 ging er an den Markt und verkaufte die ersten beiden Exemplare. Heute hat seine Firma Autogyro GmbH mit Sitz in Hildesheim mehr als 120 Mitarbeiter und produziert als unangefochtener Weltmarktführer jährlich mehr als 300 Stück in Serie.

Tragschrauber auf der ILA 2014

Echte Innovationen entstehen nicht in großen Konzernen, deren riesige Teams in der hierarchischen Struktur ausgedehnter Verwaltungen nur mehr das Bestehende optimieren können. Echte Innovationen entstehen nicht in Großforschungseinrichtungen, die am Tropf staatlicher Förderprogramme hängend vor allem wissenschaftliche Exzellenz beweisen müssen. Echte Innovationen entstehen nur, wenn visionäre Unternehmer ihr Ziel unbeirrt gegen alle Widerstände und Einwände verfolgen. Und sich vor allem ganz genau überlegen, wer ihr Produkt eigentlich kaufen soll und warum.

Kunden geben ihr Geld am liebsten für Dinge aus, deren Gebrauch ihnen Freude bereitet. Die ersten Automobile waren Spaß- und Luxusprodukte fern jeder Alltagstauglichkeit. Man fuhr Rennen mit ihnen und die begüterten Schichten ersetzten den sonntäglichen Ausritt durch die sonntägliche Ausfahrt. Viele andere Innovationen erblickten das Licht der Welt ebenfalls in solchen Nischen. Trotz seiner militärischen Anwendung im Ersten Weltkrieg benötigte das Flugzeug zwanzig Jahre vom Abenteurerspielzeug bis zu einer gewerblichen Nutzung. Mein erster Homecomputer ermöglichte nicht viel mehr als die Ausführung einfacher Spiele, die Schülerzeitung entstand auf der Schreibmaschine.

Auch der Tragschrauber wächst derzeit noch in der Nische der Luftsportler und Freizeitflieger heran. Es ist klug von Autogyro und seinen Wettbewerbern, sich zunächst auf das deregulierte Segment der Ultraleichtfliegerei zu konzentrieren. Hier kann man erstens mit vergleichsweise geringen Zertifizierungsanforderungen neue technische Systeme in die Luft bringen und zweitens die Gruppe der Enthusiasten als Kunden gezielt ansprechen. Wenn die auf diese Weise erzielten Gewinne in die Weiterentwicklung investiert werden, gelangen neue und größere Märkte in Reichweite. Schon heute sind erste gewerbliche Anwendungen des Tragschraubers auf dem Weg, in der Landwirtschaft, im Polizei- und Rettungswesen oder in der Kartographie. Im vergangenen Jahr stellte die Autogyro GmbH drei weitere Innovationen der Weltöffentlichkeit vor. Man kann jetzt ein mit entsprechenden Instrumenten und entsprechender Befeuerung für den Nachtflug zugelassenes Gerät ebenso erwerben, wie eine Sonderanfertigung für Gehbehinderte. Und die Weltpremiere eines rein elektrisch angetriebenen System weist den Weg in eine Zukunft ohne belästigenden Fluglärm. Denn mit dem auf Fachmessen angekündigtem Viersitzer will man in den Bereich der höheren Gewichtsklassen vorstoßen, was hybride Antriebssysteme (elektrisch für Start- und Landung in der Nähe von Wohnhäusern, konventionell für den Streckenflug) möglich macht. Zudem eignet sich ein Viersitzer hervorragend als Lufttaxi. Zusätzliche technische Neuerungen werden den effizienten Hochgeschwindigkeitsflug oder auch die weitere Reduzierung der erforderlichen Start- und Landestrecke betreffen. Das Potential des Tragschraubers ist bei weitem noch nicht ausgereizt.

Lasst uns in die Luft gehen

Er passt in eine Garage ebenso, wie auf eine PKW-Stellfläche. Eine Außenstart- und Landegenehmigung, die vom Flugplatzzwang befreit, ist in manchen Bundesländern recht einfach zu erhalten. Der Individualverkehr in der Luft ist keine Utopie mehr, sondern eine durchaus denkbare Vision.

Alle Vorstellungen über die Zukunft der Mobilität dürfen deren Vergangenheit nicht ausblenden. Warum benutzen wir Fahrzeuge, wo wir doch zu Fuß jeden Punkt der Erdoberfläche erreichen können? Geschwindigkeit ist das zentrale Motiv. Wir wollen möglichst schnell ankommen und nicht möglichst lange unterwegs sein. Wir fahren auch nicht mit dem Auto oder der Eisenbahn, wir fliegen nicht mit dem Flugzeug, um die Umwelt oder das Klima zu schützen. Wir reisen, um zu einem spezifischen Zeitpunkt ein individuelles Ziel erreichen. Aus dieser Perspektive kann die Zukunft der Mobilität nur im Aufbau eines zusätzlichen Transportmodus liegen, der die vorhandenen sinnvoll ergänzt. Wenn Paketdienstleister schon über eine drohnengestützte Auslieferung durch die Luft nachdenken, warum sollte das mit Menschen nicht möglich sein?

Autogyro ist nur ein Beispiel für mehrere kleine Unternehmen aus Deutschland, die an den dafür notwendigen Technologien arbeiten. Wer auf die Geschwindigkeit und die Effizienz eines Starrflüglers wert legt, mag sich beispielsweise mit dem Carplane anfreunden, einem straßenfähigen Flugzeug. Für kurze Strecken innerhalb von Städten eignet sich der Volocopter. Mit ihm könnte man leise über die Dächer der Wolkenkratzer hüpfen, in den Metropolen Asiens oder Nordamerikas. Und wer auf die Schwebefähigkeit des klassischen Hubschraubers nicht verzichten kann, dem bietet edm aerotec einen ultraleichten Koaxialhelikopter.

Wenn Politik auf Innovationen schaut und Gründer unterstützen will, ist häufig nur von Informationstechnologie die Rede. Deutschland aber ist das Land des Maschinen- und Fahrzeugbaus. Ein Silicon Valley hierzulande erzwingen zu wollen, scheint daher weniger erfolgsversprechend, als die Potentiale zu fördern, die wir schon haben. Sollte das Mutterland des fahrenden nicht auch anstreben, das des fliegenden Automobils zu werden?

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