Tichys Einblick
Nach dem EZB-Zinsschritt

Die Zinswende ist da, aber das Vertrauen in die EZB ist weg

Sowohl unter Ökonomen als auch in der breiten Bevölkerung schwindet die Zuversicht, dass die Europäische Zentralbank die Inflation eindämmen kann. Allein das ist schon ein Indiz dafür, dass die Entwertung weiter schnell voranschreiten wird.

EZB-Präsidentin Christine Lagarde bei der Pressekonferenz in Frankfurt, 27.10.2022

IMAGO / Panama Pictures

Die von ihr selbst befragten Ökonomen trauen der Europäischen Zentralbank nicht zu, die Inflation zurückzudrängen – und die Bürger erst recht nicht. Am Tag nach ihrer Anhebung des Leitzinses um 75 Basispunkte haben die von ihr befragten Experten der EZB-Geldpolitik ihre Inflationsprognose für den Euroraum erneut kräftig erhöht, wie die EZB am Freitag meldet. Sie gehen im Schnitt von einem Anstieg um 8,3 Prozent aus. Im Juli hatten sie noch 7,3 Prozent prognostiziert. Dass sie für die darauffolgenden Jahre deutlich niedrigere Prognosen abgeben, ist wenig beruhigend. Langfristiger Optimismus ist ein ungeschriebenes, aber fast nie gebrochenes Gesetz der ökonomischen Prognostik.

Und die Meldung des Statistischen Bundesamtes von heute – 10,4 Prozent Inflation im Oktober – bestätigt die düsteren Erwartungen noch.

Mit Staatsschulden gegen die Inflation
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Vielleicht noch beunruhigender als die Prognosen der Ökonomen sind die langfristigen Erwartungen der Nicht-Experten. Denn die glauben zu einem wachsenden Teil nicht mehr, dass die EZB ihr „Inflationsziel“ von zwei Prozent in den kommenden Jahren einhalten kann. Der Chef-Volkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer, schrieb kurz vor Bekanntwerden aber in Erwartung des jüngsten 75-Basispunkte-Zinsschrittes unter Berufung auf eine Umfrage wiederum der EZB selbst vom 7. Oktober in seinem „Economic Briefing“ über eine Erosion des Vertrauens. „Lange Zeit haben die Bürger dem Versprechen der EZB geglaubt, die Inflation langfristig auf zwei Prozent zu begrenzen. Diese Verankerung der Inflationserwartungen hat der EZB ihre Arbeit enorm erleichtert. Solange die Menschen an eine fortgesetzt niedrige Inflation glaubten, hielten sich die Gewerkschaften bei Lohnverhandlungen zurück, und die Unternehmen trauten sich nicht, ihre Preise stärker anzuheben. Selbst wenn die Inflation einmal kurzfristig über zwei Prozent stieg, kehrte sie wieder rasch zu dieser Marke zurück – idealerweise ohne, dass die EZB etwas tun musste. Aber diese heile Welt gibt es nicht mehr.“

Die EZB fragt die Bürger monatlich, mit welcher Inflationsrate sie in drei Jahren rechnen. Bis Anfang dieses Jahres lag der Median dieser Erwartung bei einer Erwartung von zwei Prozent, also dem offiziellen „Inflationsziel“ der EZB, jetzt liegt er bei drei Prozent. Eine Hälfte der Befragten rechnet also mit weniger, die andere mit mehr als drei Prozent. Interessant: Der Mittelwert der Antworten liegt deutlich darüber bei 4,7 Prozent. Das ist dadurch zu erklären, dass die Pessimisten deutlich pessimistischer sind, als die Optimisten optimistisch. Und diese Abweichung von Median und Mittelwert hat zugenommen. Krämer: „Die Inflationsskeptiker haben ihre Inflationserwartungen als erste angehoben und später, ab Anfang 2022, immer mehr Inflationsoptimisten in ihr Lager herübergezogen.“

Zeitenwende
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Dieser Beleg für den Vertrauensverlust der Europäer in die Fähigkeit oder den Willen der EZB für Stabilität zu sorgen, ist bedenklich. Krämer weist auf eine historische Parallele in den USA hin, die der Ökonom Ricardo Reis in einem Aufsatz mit dem Bild des „verlorenen Ankers“ illustrierte: „Obwohl die US-Inflation bereits Mitte der 60er Jahre und damit lange vor dem Ölpreisschock von 1973 die Marke von zwei Prozent überschritt, blieben die meisten US-Konsumenten noch lange entspannt. Offenbar glaubten sie der US-Notenbank, die auf Sonderfaktoren verwies und den Anstieg der Inflation als vorübergehend betrachtete. Aber bereits 1967 bekam das ursprünglich kleine Lager der Inflationsskeptiker Zulauf.“ Als der Ölpreisschock dann kam, konnte die Fed das Vertrauen in die Stabilität nicht wieder herstellen, was sich nicht zuletzt auf die Lohnforderungen der Gewerkschaften antreibend auswirkte.

Wenn tatsächlich auch im Europa der 2020er Jahre eine solche „Entankerung“ des Vertrauens in die EZB stattfindet, dürfte das eine anhaltend hohe Inflation befeuern. Vor allem dann, wenn die Zentralbanker nach dem jüngsten Zinsschritt keine weiteren folgen lassen. Der implizite Druck aus den europäischen Regierungen, dies mit Blick auf die drohende Rezession und die steigende Zinslast durch die Staatsschulden zu unterlassen, ist schon spürbar.

An den Schaltstellen in den Hauptstädten sitzen schließlich zunehmend Menschen einer Generation, die sich nicht mehr an Zeiten der Hochinflation erinnern kann und unbedarft durch die inflationsphobische Geldpolitiktradition der alten Hartwährungsländer – Deutschland vorneweg – verdrängt haben, dass in der Vergangenheit auch mal eine restriktive Geldpolitik not tat, um die Inflationserwartungen und -Entwicklungen zu stabilisieren. Von der ist die EZB noch sehr weit entfernt.

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