Lothar Wieler war einer der wichtigsten Ratgeber der deutschen Corona-Politik. Nun hat der Präsident des staatlichen Robert-Koch-Instituts (RKI) seinen vorzeitigen Rücktritt zum 1. April bekannt gegeben – und gleich darauf der Zeit ein Interview, das es in sich hat: Die monatelangen Schulschließungen, ein zentrales Element des „Lockdowns“, seien vermeidbar gewesen, sagt Wieler.
Während der Monate des Lockdowns, die vor allem für Schülerinnen und Schüler schwerste Lern-Versäumnisse und außerdem für sie und ihre Familien fundamentale Einschränkungen ihrer Lebensumstände bedeutete, wurde jeder, der behauptete, die Maßnahmen seien unnötig, als verantwortungsloser Spinner oder gar als Gefährder des Allgemeinwohls stigmatisiert. Die Begriffe „Querdenker“ und „Corona-Leugner“ wurden als Stigmata auch gegen besonnene Kritiker der Corona-Politik genutzt, um sich nicht mehr in einem sachlichen Diskurs mit ihnen auseinandersetzen zu müssen. Und nun kommt ausgerechnet Lothar Wieler, dessen Gesicht wohl jeder Nachrichtenkonsument aus den unzähligen Pressekonferenzen zuerst mit Jens Spahn und schließlich mit Karl Lauterbach kennt, mit der Erkenntnis um die Ecke, dass jene Kritiker des harten Lockdowns wohl gar nicht so unrecht hatten.
Ausgerechnet in der Zeit, in der Pandemie eine verlässliche mediale Stütze der harten Lockdown-Politik, sagt Wieler: „Es gab nie nur die Alternative: Entweder wenige Tote oder Schulen offen halten.“ Und weiter: „Der vorhandene Spielraum ist während der ganzen Pandemie nicht ausreichend mit der nötigen Sorgfalt, Ruhe und Sachlichkeit betrachtet worden.“ Das RKI habe „immer Empfehlungen abgegeben, mit denen man den Betrieb in Schulen und Kitas hätte laufen lassen können, wenn auch unter Anstrengung“.
Nur kann man sich eben nicht an Kritik aus dem RKI an den Schulschließungen erinnern. Wieler hat, so kann man vermuten, wohl so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Das sollte man ihm persönlich auf jeden Fall zugutehalten. Im Gegensatz zu seinem Chef, Gesundheitsminister Karl Lauterbach.
Wieler hat als de facto politischer Beamter aber wohl auch genug Politikereigenschaft angenommen, um zu wissen, wie man durchkommt, ohne ganz offen Fehler einräumen zu müssen: Man muss nur einräumen, „nicht optimal kommuniziert“ zu haben. So wird man nicht zum Schuldigen, sondern zum tragischen Missverstandenen. In Wielers Worten: „Ich hätte mehr Gespräche führen sollen, um diese komplexen Geschehnisse besser einzuordnen. Das habe ich zu wenig getan.“
Warum aber, so fragt man sich, hat Wieler nicht sehr viel früher schon laut vernehmbar seine Skepsis an Schulschließungen geäußert? So bleibt der Eindruck eines Mannes, der im Amt tat, was von ihm erwartet wurde und erst als Privatier den gewissenhaften, ergebnisoffen nach der Wahrheit und der besten Lösung suchenden Wissenschaftler wieder in sich entdeckt: „Als Wissenschaftler will ich wissen: Welche Maßnahmen waren adäquat, welche Kosten-Nutzen-Effekte gab es?“ Dies müsse fundiert geschehen, „als saubere Analyse“.
Zu dieser Aufarbeitung gehörte allerdings auch, dass die politischen Entscheidungsträger zur Verantwortung gezogen, also ihre Fehler wenn nicht vor Gericht, so doch zumindest in der Öffentlichkeit als solche benannt würden. Die damals verantwortlichen Politiker, aber auch ihre Ratgeber und diejenigen, die in den Medien und im „politischen Berlin“ diese Politik propagierten, sind es den Millionen Kindern und ihren Angehörigen schuldig.
Die politische Erfahrung zeigt aber, dass man sich nicht bei allen auf ein schlechtes Gewissen verlassen kann. Die Aufarbeitung muss von einer kritischen Öffentlichkeit und vom Wissenschaftsbetrieb erzwungen werden. Von einem Gesundheitsminister Lauterbach, der mittlerweile von Studien spricht, die es gar nicht gibt, um seinen obsessiven Alarmismus weiter zu betreiben, ist hier keine Unterstützung zu erwarten. Wieler dagegen könnte auch noch nach seinem Ausscheiden sicher das eine oder andere zu der von ihm selbst geforderten sauberen Analyse beitragen.