Olaf Scholz sollte das Kommunikationsdesaster, das Emmanuel Macron seit gestern erleidet, als Mahnung begreifen. Frankreichs Staatspräsident hat sich mit seiner unflätigen Kampfansage gegen die Ungeimpften womöglich gerade um seine Wiederwahl geredet. Nicht nur seine Präsidentschaftskonkurrenz von ganz links (Mélenchon) bis ganz rechts (Le Pen und Zemmour) inklusive der Mitte ist empört, sondern auch die großen Zeitungen. In Frankreich funktioniert die Presse eben noch halbwegs als vierte Gewalt und kritisches Korrektiv der Regierenden. Dass Macron die Ungeimpften nicht nur zu Unverantwortlichen erklärte, sondern dann anhängte: „Und Unverantwortliche sind keine Bürger mehr“, lässt man ihm im Mutterland der Citoyens nicht ungestraft durchgehen. Das trifft die Franzosen noch härter als Macrons ganz und gar nicht präsidentenwürdige Formulierung: „Les non-vaccinés, j’ai très envie de les emmerder“. Es ist bezeichnend für die deutsche Presse, dass sie diesen Satz geschlossen verharmlosend mit „Ich habe große Lust, die Ungeimpften zu nerven“ übersetzt, wo doch die „merde“, nämlich die Scheiße, in dem Verb unübersehbar ist.
Scholz also, dessen Naturell die Unterdrückung solcher Aggressions- und Fäkalfantasien leicht machen dürfte, sollte durch den Entrüstungssturm in unserem wichtigsten Nachbarland gewarnt sein – erst recht nach einem Wochenende mit wohl mehr als Hunderttausend Demonstranten in ganz Deutschland: Die Impfpflicht könnte vielleicht doch nicht so eine gute Idee sein. Und deren Gegner werden sich wohl durch Verbalinjurien und weitere Maßnahmen der sozialen Isolierung auch nicht klein kriegen lassen.
Vor lauter Aggression und Verhärtung ist der Ursprung der Spaltung auf beiden Seiten der Corona-Spaltung aus dem Blick geraten. Der Grund für die inzwischen beängstigende Verständnislosigkeit sind übertriebene politische Hoffnungen und Versprechen einerseits und ins Irrationale gesteigerte Ängste vor der Impfung als vermeintlich gesundheits- oder gar lebensgefährdendem Eingriff in den eigenen Körper auf der anderen Seite. Die alte und in bestimmten Milieus verbreitete Abneigung gegen das Impfen an sich (auch die verpflichtenden Masernimpfungen für Kinder werden von manchen Eltern umgangen) wird durch die neuartigen Impfstoffe nun extrem angetriggert. Die mRNA-Impfstoffe befeuern zusätzlich die seit Jahren schwelenden und bis vor Corona im grünen Juste Milieu mehrheitsfähigen Ängste vor jeglicher Gentechnik.
Scholz wäre also in der Lage, aus einer Position der Stärke heraus ein Signal der Einsichtsfähigkeit und Verständigungsbereitschaft zu senden, ohne dass er sich dafür grundlegend korrigieren müsste. Es ginge nicht darum, den Nutzen der Impfung zu verneinen und jenen Recht zu geben, die weitgehend haltlos immense Impfschäden befürchten. Es würde reichen, zu einem realistischen Bild dessen zu kommen, was die Impfungen leisten und was nicht: Sie retteten und retten weiterhin zahlreiche Menschenleben und ersparen wochenlanges Leid. Sie ermöglichen es also den meisten Geimpften, mit sehr deutlich vermindertem Risiko weiterzuleben. Aber sie machen eben nicht jeden Geimpften immun und sind somit eben nicht das, was die Politik sich und den Bürgern versprach: Die Vernichtungswaffe gegen das Virus. Die Impfung schafft das Virus, das sich wie jedes Virus und wie jedes Lebewesen durch Mutationen und Selektion verändert, nicht aus der Welt. Vor allem die neue Omikron-Variante, das wird immer deutlicher, umgeht die bisherigen Impfstoffe weitgehend.
Ein Kanzler, der den Skeptikern der bisherigen Corona-Politik mit einem Verzicht auf die Impfpflicht und einem realistischeren Blick auf die Impfung entgegenkäme, könnte schließlich tatsächlich dazu beitragen, dass die absurde Politisierung der Impfung entschärft und der Graben, den diese durch die Gesellschaft gezogen hat, wieder friedlich überwindbar würde. Die Corona-Impfung wäre dann eben nicht mehr zur solidarischen Bürgerpflicht verklärt, der sich zu entziehen einem Verrat an den Mitbürgern gleichkommt. Aber ebenso taugte die Weigerung, sich impfen zu lassen, dann nicht mehr als politisch aufgeladener Akt des Widerstands. Impfung wäre kein Thema mehr, dass Hunderttausende auf die Straßen oder in die innere Emigration treibt, sondern einfach ein Weg, sein persönliches Gesundheitsrisiko sehr deutlich zu mildern.
Scholz hat es in der Hand. Der Mantel der Geschichte flattert gerade vor ihm, er muss ihn nur ergreifen. Der neue Kanzler kann den inneren Frieden seines Landes gewinnen und als Sieger aus der Corona-Pandemie hervorgehen. Die Alternative ist ein zerstörerischer Kampf gegen die Wirklichkeit und eine Minderheit, aber eine große und wachsende, der eigenen Bürger. Scholz sollte nicht erst im April, wenn Macron seine Präsidentschaft verloren haben könnte, merken, was das bedeutet.