Der vermeintliche „Dammbruch“ von Thüringen entpuppte sich letztlich als das Gegenteil. Die „Brandmauer“, die die AfD von den anderen Parteien trennt, wurde noch höher gezogen. Offenbar kann Thomas Kemmerich sogar der tiefe Fall vom Kürzest-Zeit-Ministerpräsidenten zum FDP-Ausschlussverfahren bevorstehen. Letztlich droht ihm oder zumindest seinen Anhängern ebenfalls die Ausbürgerung hinter die Brandmauer in das verbotene Land.
Kemmerich wurde auf verfassungsgemäßem Wege in sein Amt gewählt. Aber die Anti-Macht der AfD-Stimmen hat sich als stärker erwiesen. Was diese Anti-Partei berührt, etwa durch ihre Stimmen im Thüringer Landtag, ist kontaminiert. Das heißt: Der Status der AfD als Feind ist zu einem Werkzeug der Macht geworden. Das haben sowohl die Führungspolitiker der Koalitionsparteien, als auch die der Grünen und Linken gerade vorexerziert, und die Liberalen und Christdemokraten in Thüringen wissen das spätestens seit diesen aufregenden Tagen nun auch.
Die Existenz der AfD als Partei hinter der Brandmauer macht es einer Kanzlerin möglich, die verfassungsgemäße Wahl eines Ministerpräsidenten „unverzeihlich“ zu nennen und zu verlangen, dass daher „auch das Ergebnis wieder rückgängig gemacht werden“ müsse. Und das geschieht dann auch noch.
Merkels größtes Talent ist die Verwandlung von Schwächen in Stärken. Sie hat ihr Nicht-Sprechen-Können zu einer diskursiven Methode gemacht, indem sie eben nicht aufklärend, sondern vernebelnd kommuniziert. Wer keine klaren Sätze von sich gibt, bietet seinen Kritikern auch wenig Angriffsfläche. Confunde et impera – verwirre und herrsche – könnte man dieses merkelsche Erfolgsrezept nennen. Ebenso hat sie auch ihren größten politischen Gegner, ja Feind, nämlich die AfD, zu einem Werkzeug des eigenen Machterhalts gemacht. Jede innere Kritik, etwa durch die konservative Basisbewegung WerteUnion kann (und wird auch) abgewehrt werden, indem sie in die Nähe der Brandmauer geschoben wird. Jeder, der Merkels Linie konsequent kritisiert, setzt sich dem Verdikt aus, dass ähnliches vielleicht auch in der AfD geäußert werde. Oder um im Bild zu bleiben: Die Werte-Union tänzelt auf der Mauer. Manche springen in das verbotene Land, dem gesamten Verband droht, dass er hinüber geschubst wird.
Für die Kanzlerin und diejenigen, die mit und durch sie an der Macht teilhaben, hat die Brandmauer gegen die AfD noch eine weitere willkommene Wirkung. Sie verstellt den Blick auf die wesentliche Fragen: Warum gibt es die AfD überhaupt, warum wird sie von so Vielen gewählt?
Auch die CDU-Führung hält sich nicht mehr zurück. Paul Ziemiak etwa spricht explizit von „Nazis“. Das lenkt ab von der verdrängten Tatsache, dass Existenz und Wahlerfolge der AfD zu guten Teilen Folgen eigenen Handelns oder besser eigener Versäumnisse sind. Denn politische Bewegungen kommen für gewöhnlich nicht aus historischen Untiefen zurück, sondern sind Reaktionen auf gegenwärtige Versäumnisse anderer Parteien. Die Bürger, die heute AfD wählen, haben zum größten Teil vor einigen Jahren noch die Unionsparteien, die FDP und zu einem geringeren Teil auch SPD, Linke oder gar Grüne gewählt. Der Grund dafür ist die Abkehr der Unionsparteien, aber auch der SPD von bislang vertretenen Positionen und Wählerinteressen.
Als die AfD 2013 entstand, gaben Merkel und die Unionsführung die Parole „nicht mal ignorieren“ aus – unterlegt mit dem Etikett des „Rechtspopulismus“. Damals war wohl die Hoffnung, diese neue Konkurrenz beim Wähler noch kleinzukriegen. So wie es mit den Republikanern 20 Jahre zuvor gelungen war. Aber die Unionsparteien (und die anderen Parteien erst recht nicht) haben im Gegensatz zu damals seit 2015 so gut wie nichts getan, um den Wählern der AfD ein ernsthaftes Rückkehrangebot zu unterbreiten. Dies hätte selbstverständlich auch eine Korrektur auf bestimmten Politikfeldern bedeutet, also auch, dass Merkel und die gesamte Bundesregierung eigene Fehler eingestanden hätten.
Dazu hätte die Unionsfraktion im Bundestag – auf die kommt es an, wenn es um Machtfragen geht, nicht auf die Mitglieder oder den Bundesparteitag – Merkel dazu zwingen müssen. Dazu fehlte die politische Weitsicht, der Wille und vor allem der Mut. Man wollte das nicht, sondern mit Merkel und deren Kurs der programmatischen Selbstaufgabe zugunsten der SPD und der Grünen weitermachen. Hauptsache, die eigene Chefin behauptet das Kanzleramt – und all die Annehmlichkeiten und die Teilhabe an der Macht, die dem Kader der Kanzlerpartei offenstehen.
Die bürgerliche Mitte aus dieser verzweifelten Lage zu befreien, ihr die politische Heimat zurück zu geben, die sie in der Union einst hatten, und damit die AfD überflüssig zu machen, wäre die wichtigste Aufgabe einer erneuerten nach-merkelschen Union. Anzeichen dafür, dass es in naher Zukunft dazu kommt, sind nicht zu erkennen. Auf Einsicht in die Reformbedürftigkeit in der Spitze der CDU kann man nicht setzen. Die aktuelle Parteiführung und vor allem Merkel, die ganz offensichtlich weiterhin das letzte Wort hat, zeigt daran kein Interesse. Solange die AfD hinter der Brandmauer bleibt und sich selbst radikalisiert, meint sie, interne Kritik als „AfD-nah“ abblocken und immer noch genug Wähler halten zu können, um mit SPD oder Grünen zu regieren. Und alles andere gilt im Konrad-Adenauer-Haus als belanglos. Die Rechnung hat nur zwei entscheidende Fehler: Sie macht die CDU zur Schrumpfpartei, die mittlerweile schon die LINKE braucht, um sich an der Macht zu halten. Und sie treibt der AfD immer neue Wähler zu. Die Abwärtsspirale der CDU ist die Aufwärtsspirale der AfD, die sich noch schneller dreht, seit Merkel auch die FDP als Alternative zerstört hat.
Aktuell sieht das so aus: