Manche Lektüre bleibt unvergesslich nicht nur wegen des Inhalts, sondern durch die Umstände des Lesens selbst. Theodor Storms „Schimmelreiter“ liest sich natürlich eindrucksvoller auf einer Reise an die deutsche Nordseeküste als während einer Bergtour. Aber darum geht es hier nicht. Als ich an einem Sonntag Robert Harris’ Roman „Der zweite Schlaf“ kürzlich las, gingen plötzlich im Wortsinne alle Lichter aus: Stromausfall. Der Kühlschrank lief nicht mehr und der Herd natürlich auch nicht. Es war erst das dritte Mal, dass ich das erlebte. Das erste Mal war auf einer Reise in Dobritsch (damals noch Tolbuchin genannt) in Bulgarien im Sommer 1991, das war wenig überraschend. Das zweite Mal ist noch kein Jahr her und nun vor wenigen Tagen erneut ein Stromausfall – zwei Mal innerhalb weniger Monate fällt in der Landeshauptstadt Düsseldorf der Strom aus.
Nach dem Blick auf den Sicherungskasten wird klar, dass es nicht nur unser Problem sein kann. Und tatsächlich kommen schon die Nachbarn vor die Haustüren und stellen aufgeregt fest, dass zumindest unsere ganze Straße betroffen ist. Einer hatte schon die Düsseldorfer Stadtwerke angerufen, und die gelobten, dass die Störung bald beseitigt wäre. Also warten wir auf die Rückkehr dessen, was uns Zivilisationsmenschen so selbstverständlich erscheint: Strom. Und während die Vorräte in der Tiefkühltruhe langsam antauten und wir uns auf ein Abendbrot ohne Spiegeleier vorbereiteten, stellte ich mir die Frage: Was würde aus meiner Familie, aus dieser ganzen Nachbarschaft, aus diesem Land, wenn der Strom nicht mehr zurückkäme?
Genau darauf hat nämlich Robert Harris in seinem Buch, das ich gerade las, eine Antwort gegeben, indem er eine stromlose Zukunftswelt, zumindest ein Zukunfts-England, entworfen hat. Vorweg: Es ist kein literarisches Meisterwerk, es enthält keine Sätze für die Ewigkeit und seine Hauptfigur wird in der Literaturgeschichte keinen Platz neben Winston Smith aus Orwells „1984“ beanspruchen können. Dennoch ist es ein beeindruckendes, wichtiges Buch. Das liegt an der Zukunftswelt selbst, die Harris als Handlungsfeld entworfen hat.
Es gibt da eine lustige Szene zu Anfang, der literarische Höhepunkt des Buches, als jener Pfarrer bei einem ermordeten anderen Pfarrer allerlei „Antiquitäten“ entdeckt, die dieser ausgegraben hat. Darunter als Star der Sammlung ein Gerät,
„dünner als sein kleiner Finger, kleiner als seine Hand, schwarz, glatt und glänzend, gefertigt aus Plastik und Glas. Es lag ziemlich schwer in der Hand und fühlte sich angenehm solide an. Er fragte sich, wem das wohl gehört hat und wie es in den Besitz des Priesters gelangt war. Welche Bilder es einst wohl übermittelt hatte? Und welche Geräusche es produziert hatte? Er drückte auf den Knopf auf der Vorderseite, als könnte es wie durch ein Wunder zum Leben erwachen, aber die glänzende Oberfläche blieb entschieden schwarz und tot. Er konnte lediglich das im Kerzenschein geisterhafte Spiegelbild seines Gesichts sehen. Er drehte es um. Auf der Rückseite prangte das endgültige Symbol für die Hybris und Blasphemie der Vorfahren – ein angebissener Apfel.“
„Unsere moderne Gesellschaft hat inzwischen ein Niveau der Differenziertheit erreicht, das uns auf einzigartige Weise für einen totalen Kollaps anfällig macht. Mit dem Transfer zahlloser wirtschaftlicher und sozialer Aktivitäten in den Cyberspace hat sich die Bedrohungslage seit dem Jahr 2000 erheblich verschärft. Und dennoch ist auf Regierungsebene keine entsprechende Notfallplanung erfolgt. Ein länger andauerndes allgemeines Versagen der Computernetze würde zum Beispiel – vor allem im städtischen Raum – binnen vierundzwanzig Stunden zu Engpässen in der Versorgung mit Lebensmitteln und Kraftstoff führen, zu einer dramatischen Beeinträchtigung bei der Geldversorgung (Ausfall von EC-Automaten, Kreditkarten-Transaktionen und Online-Banking), zu Störungen im Kommunikations- und Informationswesen, zum Zusammenbruch des Transportwesens, zu Panikkäufen, zu Massenexodus und zivilen Unruhen. Besonders durch eine Unterbrechung des Nahrungsmittelvertriebs, der für einen Rund-um-die-Uhr-Nachschub auf computerbasierten Informationsnetzwerken beruht, käme es binnen Stunden zu schwerwiegenden Folgen. Vor dreißig Jahren verfügte der durchschnittliche Haushalt in Großbritannien über einen Vorrat an Lebensmitteln für acht Tage. Heute liegt er im Durchschnitt bei zwei Tagen. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass London zu jeder Zeit nur sechs Mahlzeiten vom Verhungern entfernt ist.“
Harris’ Buch ist nur eine von unzähligen Dystopien, die den Zusammenbruch unserer technischen Zivilisation und das (Über-)Leben in einer neuen, unzivilisierteren Welt thematisieren, Romane, Filme, Fernsehserien und nicht zuletzt Computer-Spiele. Ein junges Genre, dessen kommerzieller Erfolg bezeichnend ist. Der Gedanke an den Zusammenbruch der Zivilisation scheint die Phantasie des modernen Zivilisationsmenschen enorm anzuregen. Da ist wohl eine Angst im Spiel, die in der wirklichen Alltagswelt verdrängt wird, aber bei vielen Menschen immer da ist. Das Hamstern in den ersten Corona-Wochen gab auch einen Eindruck dieser Angst, dieses selten offen ausgesprochenen Wissens um die Verletzlichkeit und Instabilität unserer Zivilisation. Vermutlich ist bei manch einem Leser, Zuschauer und Computerspieler auch ein irrationaler Überdruss an der eigenen Zivilisation, eine Lust an der Erwartung der großen Zerstörung mit im Spiel – so wie ja auch schon die frühen Christen die Apokalypse einerseits fürchteten, andererseits als Übergang zum Reich Gottes herbeisehnten
Der Boom der postapokalyptischen Dystopie darf als Indiz dafür gelten, dass es unter der Oberfläche der von Politik und Wirtschaft, aber auch von der Wissenschaft vorgegebenen optimistischen Annahmen Grund für Skepsis gibt. Diese drei zentralen Funktionssysteme gehen davon aus, dass Wissen und Kompetenzen, die einmal durch den Zivilisationsprozess und den wissenschaftlichen Fortschritt in der Welt sind, da auch bleiben. Dass dies ein ewiger, kumulativer Prozeß ist, der nur eine Richtung kennt: Der Haufen des Wissens wird immer größer, und die nach uns kommen, werden immer mehr wissen und können als wir.
Robert Harris und andere Autoren postapokalyptischer Dystopien sind so erfolgreich, weil sie diese Fortschrittsillusion entlarven. Ihre Geschichten sind so faszinierend und so kommerziell erfolgreich, weil auch die Leser und Zuschauer letztlich ahnen: Alles, was unsere Vorfahren angehäuft haben, ist flüchtig und kann verloren gehen. Harris, selbst studierter Historiker, lässt seinen Wissenschaftler des Jahres 2022 warnen: „Alle Zivilisationen hielten sich für unverwundbar. Die Warnung der Geschichte lautet: Dem ist nicht so.“
Die Geschichte des spätantiken-frühmittelalterlichen Europa etwa ist eine des Verlorengehens von Wissen. Nicht nur unschätzbare philosophische und sonstige Literatur ging entweder unwiederbringlich verloren, nicht nur durch Barbaren-Angriffe, sondern auch durch mehr oder weniger bewusstes vergessen Wollen im Rahmen der Christianisierung, die etwa dazu führte, dass die Jahrhundertelang fortbestehende platonische Akademie in Athen von Kaiser Justinian 529 geschlossen wurde. Auch ganz handfeste praktische Zivilisationsfertigkeiten, technische und ökonomische Kompetenzen gingen in jenen Jahrhunderten verloren. Ein Beispiel: In Britannien verschwinden mit dem Rückzug der römischen Legionen und dem Eindringen der Angeln, Sachsen und Jüten in den dunklen Jahrhunderten die Ziegeldächer. Nicht nur in den von germanischen Invasoren eroberten Landesteilen. Offenbar haben sie auch die nach Wales und Cornwall ausweichenden romanisierten Briten verlernt. Der zivilisatorische Rückschritt war in Britannien besonders krass, weil die römische Militär- und Verwaltungselite komplett abzog und die Invasoren noch rückständiger waren als etwa die Franken oder Goten.
Der Zivilisationsprozess der unsere heutige technisierte Welt hervorgebracht hat, beruht auf zwei Voraussetzungen, ideellen und materiellen. Und die sind eben nicht selbstverständlich und unerschöpflich fortbestehend:
Die zweite Conditio sine qua non zur Aufrechterhaltung der technisierten Zivilisation ist die Verfügbarkeit der natürlichen Ressourcen, inklusive der Fähigkeit der natürlichen Lebenssysteme, die Abfälle und Nebenwirkungen menschlicher Aktivität zu verkraften. Man mag den bewusst mit apokalyptischen Narrativen redenden Klimakatastrophenpredigern mit Skepsis begegnen. Keinen ernsthaften Zweifel kann es aber daran geben, dass die Intensität der Beanspruchung der natürlichen Lebensgrundlagen durch Menschen zu einer sich dramatisch zuspitzenden Begrenzungskrise führt.
Das Bewusstsein für diese grundlegende ökologische Krise ist seit rund 50 Jahren in den westlichen und mittlerweile auch anderen Gesellschaften vorhanden. Die Lust an postapokalyptischer Fiktion ist wohl auch ein Teil dieser Witterung dafür, dass die produktive und reproduktive Dynamik der vergangenen beiden Jahrhunderte – also starkes Wachstum der Bevölkerung und des Umsatzes von Material und Energie pro Kopf – nicht weiter gehen kann, ohne drastische Folgen zu verursachen, die durchaus apokalyptische Ausmaße annehmen können. Die Tatsache, dass dieses Bewusstsein politisch ausgebeutet wird, und Ideologen zugleich mit der Umwelt- und Klimarettung gleich noch einige andere sozialistische, feministische oder antirassistische Lieblingsprojekte umsetzen wollen, ändert nichts an der Dramatik der ökologischen Krise selbst.
Man muss weder ein Autor postapokalyptischer Romane noch Anhänger radikaler Öko-Bewegungen wie der „Extinction Rebellion“ sein, um der vom Historiker Rolf Peter Sieferle schon 1994 in seinem „Epochenwechsel“ gemachten Vorhersage zuzustimmen:
„Dieses Industriesystem wird seine spezifische Struktur und Dynamik nicht dauerhaft aufrecht erhalten können, da es an Grenzen stößt, deren Überwindung nicht mehr im Rahmen seiner Disposition liegt. Es wird also untergehen. Vieles spricht dafür, daß die entscheidende Anpassungskrise bereits in den nächsten hundert Jahren stattfinden wird, wenn eine Kombination von wachsender Bevölkerung und wachsendem Pro-Kopf-Verbrauch von Ressourcen, wachsenden Umweltschäden und knapper werdenden Rohstoffen und Energieträgern die Potentiale technischer Innovation überfordern wird. Die dann erfolgende Einleitung einer ‚nachhaltigen Entwicklung‘ wird zweifellos auf metabolische Niveaus führen, die deutlich unter denen liegen, die heute in den Industrieländern verbreitet sind.“
Vielleicht hätte Sieferle (gestorben 2016) das agrarische, elektrizitätslose Zukunftsengland des Robert Harris als durchaus realistische Prognose betrachtet. Umgekehrt hätte Harris bei Sieferle einen Begriff finden können, der ihm vielleicht beim Entwurf eines glaubwürdigen Untergangsszenarios, das seinem Buch fehlt, hätte hilfreich sein können: „sanfte Apokalypse“. Die Schwäche und mangelnde Überzeugungskraft eines Großteils der (post)apokalyptischen Erzählungen ist, dass sie den großen Kladderadatsch der Einfachheit halber meist als punktuelles Einzelereignis darstellen – billigste Variante: der Atomkrieg. Aber ist nicht das allmähliche Zerfallen der Stromversorgung und anderer Strukturen viel eher wahrscheinlich, als deren plötzlicher Totalzusammenbruch? So wie einst die Bewohner Britanniens nicht über Nacht, sondern über Jahrzehnte und Jahrhunderte die Fähigkeit, ein Dach aus Ziegeln zu bauen, einbüßten – oder von denen, deren Platz sie übernommen hatten, nicht erlernten.
Und was bleibt als politische Antwort angesichts solcher langfristiger Zukunftsaussichten? Wie Sieferle feststellt gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, auf die Umweltkrise politisch zu reagieren: Einerseits der universalistische Weg einer „Politik des Ganzen“, die in den Fußstapfen des linken, sozialistischen Projekts mit totalisierender Macht den Wirtschaftsprozess einer möglichst globalen planerischen Kontrolle unterwirft, die Produktion und Konsum, Technik und Ressourcenverbrauch regelt – mit dem Anspruch, die Umwelt- und Klimakrise an der Wurzel zu packen und grundlegend zu beheben. Die etablierte Politik des Westens, des Merkelschen Deutschlands und der Leyenschen und Lagardeschen EU mit ihrer Weltklimapolitik beschreitet diesen universellen Weg des tugendhaften Ökosozialismus zum Zwecke der großen Weltrettung.
Ob der sein Ziel – die große Lösung der Krise, letztlich die Weltrettung – erreichen kann, ist offen. Das Enttäuschungspotential könnte sich jedenfalls als riesig erweisen.
Der letztere Weg spielt in der gegenwärtigen Politik (noch?) keine dominante Rolle. Aber in der dystopischen Literatur dafür eine umso größere. Robert Harris und die meisten anderen Postapokalyptiker gehen jedenfalls in ihren Zukunftswelten davon aus, dass solche Globallösungen eher nicht von Erfolg gekrönt sind. Zukunftsromane, die in einer nach den Phantasien der Uno und des IPCC geretteten „einen“ Welt spielen, sind Mangelware – was dafür spricht, dass auch die Leser sie ehrlicherweise für weniger tragfähig halten, wenn es wirklich ernst wird. Die postapokalyptischen Welten der Bücher, Filme und Computerspiele sind in aller Regel von neu entstandenen Stämmen oder Staaten bevölkert, die miteinander im Clinch liegen. Auch in Robert Harris’ „Der zweite Schlaf“ haben diejenigen, die die Apokalypse überlebten (die Bevölkerungszahl entspricht nur noch etwa einem Zehntel der heutigen), dies getan, indem sie sich an das hielten, was Halt gibt: Sie sammelten sich zum Überleben von Chaos und Gewalt in den Kirchen – und aus diesen lokalen christlichen Gemeinschaften entstand dann ein neues, altes England, das die „Hybris“ der Vorfahren verurteilt. Dass er in seinem postapokalyptischen Zukunftsbritannien auch ein „nördliches Kalifat“ und Frankreich als Dauerfeinde einbaut, legt nahe, dass Harris – keinesfalls als Nationalist oder christlicher Fundamentalist bekannt – auch die Bindekraft innerhalb multikultureller Gesellschaften oder internationaler Bündnisse für nicht besonders krisenresistent hält.
PS: Die Düsseldorfer Stadtwerke haben schließlich Wort gehalten. Der Strom kam wie von Geisterhand wieder zurück, die Lichter gingen an, der Kühlschrank fing wieder an zu brummen und fror die Vorräte wieder fest, bevor sie ganz aufgetaut worden wären. Ich musste keine Kerze anmachen, um Harris’ Buch weiterzulesen. Aber es hat doch eine Stunde lang gedauert. Eine Stunde Lebens- und Lesezeit, die deutlich machte, wie verletzlich und voraussetzungsreich unser scheinbar normales Leben im elektrifizierten Wohlstand ist.