Tichys Einblick
Das Erbe von 68

Falsche Romantik und echte Randale: Was wirklich unter dem Pflaster liegt

In Stuttgart und anderswo nehmen junge Randalierer diejenigen beim Wort, die 1968 "unter dem Pflaster den Strand" versprachen. Grenzenloser Hedonismus und neues Barbarentum reichen sich die Hand. Doch sie finden nicht den Strand, sondern wecken ein begrabenes Monster auf.

imago images / Nina Blaz

Es war wohl einer der großen Geniestreiche der politischen PR und kein schlechtes Stück romantischer Dichtung: „Unter dem Pflaster liegt der Strand“. Im französichen Original klingt es alliterierend noch schöner: „Sous les pavés la plage.“ Der Medizinstudent Bernard Cousin hat die Worte im Frühling 1968 erfunden – gemeinsam mit dem Werbetexter Bernard Fritsch. Sie schrieben sie als Graffiti an eine Wand im Quartier Latin.

Sie gingen um die Welt und sollten eine der bekanntesten Parolen von ’68 werden und bleiben. Mehrere Lieder zitierten den Strand unter den Pflastersteinen, ein Anarchistenmagazin nannte sich danach und Daniel Cohn-Bendit sein Frankfurter Stadtmagazin „Pflasterstrand“.  

Cousin selbst sagte zur Entstehung seines Werkes: „Wir suchten nach etwas, das man unter den Pflastersteinen sucht, um die Kundschaft (sic!) aufzustacheln, sie heraus zu heben, es kam uns ganz natürlich vor, weil wir zum Löschen der Rauchgranaten der Polizei die Ventile der Hydranten auf den Bürgersteigen öffneten und das Wasser auf das Sandbett floss, das den Pariser Pflastersteinen als Untergrund dient. Um eine gemeinsame paradiesische Zukunft heraufzubeschwören haben wir, die wir so unterschiedlich waren,  nur unser kindliches Vergnügen am Strand gefunden.

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In dieser Dichtung vom Pflaster und dem Strand offenbart sich die neue Linke in kondensierter Form. Sie ist da ganz bei sich. Eine Linke, die nicht mehr proletarisch, sondern bürgerlicher Herkunft war und ist. Die nicht mehr elend war und nach Brot verlangte, sondern vor lauter Freiheiten und Wohlstand, die sie für gegeben ansieht, nach unbegrenztem Vergnügen verlangt. „Il est interdit d’interdire“ – „Es ist verboten zu verbieten“, war noch so eine Parole der französischen 68er. Und die ewige Strandparty glaubt diese neue Hedonistenlinke ermöglichen zu können, indem sie buchstäblich die Grundlage der Ordnung, auf der sie selbst samt ihrer Vergnügungen steht, aus dem Boden reißt und auf diejenigen wirft, die ihr den Spaß nicht gönnen.

Das Pflaster, das ist die staatliche Ordnung. Man kann darin geradezu ein Sinnbild der zivilisatorischen Errungenschaften der europäisch-abendländischen Geschichte sehen: Nach dem Untergang des Römischen Reiches mit seinen gepflasterten Straßen, waren die Wege zwischen und in den Städten und Dörfern abwechselnd staubig oder verschlammt und damit kaum passierbar. Die Pflasterung der Straßen durch die frühneuzeitlichen Staaten war eine der existentiellen Voraussetzungen für ökonomischen und sozialen Fortschritt. Je besser die Straßen, desto wohlhabender die Stadt oder das Land. 

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In Reiseberichten des 17. Jahrhunderts zum Beispiel werden oft die vorbildlich gepflasterten Straßen der reichen Niederlande im Gegensatz etwa zu den verkommenen Wegen im damals kriegsgeplagten Deutschland erwähnt. Die Behauptung, dass das Straßenpflaster ein Paradies verberge, hätte damals niemand verstanden. Der Spruch von Cousin und sein Erfolg sind nur als Wohlstandsphänomen verständlich: Man zerstörte buchstäblich die Basis der eigenen zivilisatorischen Existenz auf der Suche nach einem imaginären, ursprünglichen Paradies.

Die Straßenschlachten von 1968 werden vielleicht im Nachhinein von künftigen Historikern nur als Vorspiel zu dem betrachtet werden, was nun, ein halbes Jahrhundert danach, sich Bahn bricht. Und – um im Bild zu bleiben – nun wird immer deutlicher, das unter den Pflastersteinen von Stuttgart, Dijon und anderen Städten eben doch nicht der Strand liegt. 

In Wirklichkeit liegt da seit uralten Zeiten ein Monster begraben, das jetzt wieder erwacht ist. Thomas Hobbes nannte es Behemoth, nach einem Ungeheuer des Alten Testaments. Es steht für die Herrschaft der staatenlosen Unordnung, des Krieges aller gegen alle, und muss durch ein anderes Monster, nämlich Leviathan (= der Staat) unterworfen werden. 

Die Randalierer von Stuttgart haben vermutlich wenig Sinn für studentische Romantik und Hobbes‘ politische Philosophie. Aber falls sie von 1968 etwas gehört haben, dann war es höchstwahrscheinliches nur Gutes. Dass Cohn-Bendit und seine Mitstreiter in Paris, Frankfurt und anderen Städten Befreiungskämpfer waren, ja, dass sie sogar die Demokratie auf beiden Seiten des Rheins erst richtig gründeten, ist an Schulen, Universitäten und in Redaktionen längst Common Sense. (Mehr zum Thema: Josef Kraus, 50 Jahre Umerziehung – Die 68er und ihre Hinterlassenschaften (2018))

Dank des erfolgreichen Marsches der 68er durch Politik, Medien, Universitäten und andere Institutionen ist die Frage, auf welcher Seite der Barrikaden damals die Guten, also die Demokraten standen, im öffentlichen Diskurs festgelegt. Auf der falschen standen jedenfalls die Polizisten. Der letzte Versuch, daran zu rütteln, scheiterte, als Bettina Röhl im Jahr 2000 die Deutschen darüber aufklärte, dass auch ihr Außenminister Joschka Fischer, der mit Daniel Cohn-Bendit in Frankfurt eine Wohnung teilte, Steine auf Polizisten geworfen hatte. Unvergesslich, aber folgenlos, sein lapidares Bekenntnis vor dem Bundestag: „Dann und wann habe ich auch einen Polizisten verprügelt“.

Man stelle sich vor, ein politisch aktiver Polizist, etwa Rainer Wendt von der CDU, müsse zugeben: „Dann und wann habe ich auch einen Demonstranten verprügelt.“ Sehr fraglich, dass er daraufhin noch wie Fischer damals im Bundestag die Unterstützung seiner Partei und die „volle Solidarität“ des Koalitionspartners SPD genösse.

„Es war eine Freiheitsrevolte mit totalitären und gewalttätigen Elementen“, sagte Fischer über die Bewegung, in der er damals aktiv war. Sie habe trotz des von ihr begangenen Unrechts zu mehr Freiheit geführt. Die damalige Oppositionsführerin hieß übrigens Angela Merkel. Sie warf Fischer damals im Bundestag eine falsche Sicht auf die Vergangenheit vor. Es sei falsch, wenn der 68er-Bewegung ein Beitrag zur Befreiung zugeschrieben werde. 

Das war im Januar 2001 und es ist völlig unvorstellbar, dass die heutige Merkel so etwas wiederholt. Der Sieg Fischers und damit aller Pflastersteine-Romantiker war total. Sie hatten offensichtlich die Diskurshoheit errungen und legten fest: Pflastersteine geworfen und Polizisten verprügelt zu haben, ist nicht so schlimm, wenn man es für die „Freiheit“ tat. Oder, um im Bild zu bleiben, sofern man unter den Steinen den Strand suchte.

Merkel und der Rest der einst bürgerlichen politischen Parteien und Öffentlichkeit haben das akzeptiert. Seither gibt es auch in der Union keine ernsthafte Kritik an diesem Selbst-Freispruch der Linken mehr. Man sieht stattdessen zu, wie sich zügelloser Hedonismus und neues Barbarentum gegenseitig zur Hand gehen beim Herausreißen der Steine, die seit Generationen die Grundlage europäischer Gemeinwesen waren. 

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Die meisten jungen Männer, die in Stuttgart Polizisten angriffen, deren Autos zertrümmerten und Geschäfte plünderten, waren den Videos nach zu urteilen, die sie selbst davon drehten, Zuwanderer oder deren Nachkommen. Ihre Motive dürften in erster Linie nicht im engeren Sinne links sein. Aber sie riefen lachend „Fuck the police. Fuck the system.“ Offensichtlich ist die linksradikale Antifa-Propaganda und deren offensive Feindschaft gegen die staatliche Ordnung und die Polizei ihnen zumindest zur Garnierung von Zerstörungswut hochwillkommen. 

Ein Mob, wie der, der sich in Stuttgart austobte, hat keine politische Agenda, aber er ist auch nicht blind und taub für die Lage seiner Lebenswelt. Die Gewalttäter der Nacht von Stuttgart offenbarten ebenso wie diejenigen in Dijon und in zahlreichen Städten der Vereinigten Staaten, dass sie eine politisch-mediale Lage zu nutzen wissen, in der buchstäblich alles, was früher einmal galt, auf den Kopf gestellt und die Ordnungsmacht des Staates von dessen obersten Repräsentanten selbst unter den übelsten moralischen Generalverdacht gestellt wird. Sie wissen, dass längst jeder, der die Steine im Pflaster lassen und nicht herausreißen will, den Vorwurf fürchten muss, kein Demokrat zu sein. Und sie sehen, dass die tonangebenden Kreise der Gesellschaften, in die sie eingewandert sind, alles in Frage stellen, was sie selbst beziehungsweise ihre Vorfahren hervorgebracht haben: die historischen Grundlagen ihrer gewachsenen Kultur, ihrer politischen Ordnung, ihres ökonomischen Wohlstands. 

Cousin, der einst rebellierende Student und Dichter aus dem Quartier Latin hat nach 1968 wie die meisten seiner Mitstreiter ein Leben in bürgerlichem Wohlstand geführt. Er wurde Arzt, hatte fünf Kinder, fuhr exquisite Motorräder und starb im April 2018.

Das Pflaster war so stabil, dass es die Generation, die die ersten Steine herausbrach, immer noch gut tragen konnte. Es ertrug auch einen ehemaligen Steinewerfer und Polizistenverprügler als Außenminister. Doch die Suche nach der paradiesischen Strand-Party ohne Verbote ging und geht weiter. Die ganze Wucht der Enttäuschung über das, was wirklich unter dem Pflaster liegt, werden diejenigen, die die Suche begannen, wohl nicht mehr miterleben. 

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